Reportagen

Antonov AN 124 – der kniende Riese

Die Antonov AN 124 „Ruslan“ ist ein regelmäßiger und doch seltener Gast auf europäischen Flughäfen. Wo immer der ehemals als sowjetischer Militärtransporter konzipierte und entwickelte Riese auftaucht, zieht er Laien, Flughafenmitarbeiter und natürlich Spotter, die zu jedem Flughafen wie die sprichwörtliche Butter aufs Brot gehören, magisch an. Doch nur wenige Spotter, Fotografen und Journalisten haben die AN 124 bereits von innen gesehen. Und noch weniger sind es, denen es gelungen ist, zu Sowjetzeiten diese Maschine zu besichtigen. Paul Bierl, Luftfahrtjournalist, Pilot und Unternehmer, konnte im Jahr 1987 auf der Paris Air Show in Le Bourget einen sprichwörtlichen Blick hinter die Kulissen werfen und erinnert sich für Austrian Wings zurück.

Auch in Wien war die mächtige AN 124 schon zu Gast, wie hier im Jahr 2006 - Foto: P. Radosta / Austrian Wings (für eine größere Darstellung klicken Sie bitte auf das Bild)

„Njet“, „Streng geheim“, Kopfschütteln und nochmals „Njet“ – das bekommt, oder besser bekam man bis jetzt zu hören, wollte man Details oder eine Besichtigung von (Militär-) Flugzeugen sowjetischer Produktion organisieren. Doch plötzlich, so scheint es, ist auch hier nach der politischen und gesellschaftlichen Ebene, die große Wende hin zur Öffnung eingetreten. Bei der Pariser Luftfahrtschau in Le Bourget, traditionell eine Plattform für sowjetische Neuentwicklungen am Flugzeugsektor, war es bislang nicht einmal hochoffiziellen Besuchern vergönnt, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Umso mehr verwundert es, dass es mir als Privatperson gelang. Bereits zum zweiten Mal war das damals größte (das bis heute größte Flugzeug der Welt, die AN 225 „Mrija“ hatte ihren Erstflug erst am 21. Dezember 1988, Anm.) und leistungsfähigste Flugzeug der Welt, der sowjetische Militärtransporter Antonov AN 124 „Ruslan“ (benannt nach dem gutmütigen Riesen aus einem russischen Märchen) anwesend.

Beim Anblick der AN 124 fragt sich mancher Besucher, ob er einer optischen Täuschung zum Opfer gefallen ist, oder ob dieses "riesengroße Ding" tatsächlich fliegen kann

Hier stand es nun, bullig, riesengroß, mit Flügeln, deren Spannweite schier unglaublich war und einem gigantischen Rumpf. Vom Boden bis zur Spitze des Seitenleitwerks ist die „Ruslan“ etwa so hoch wie ein 8stöckiges Haus. Visuelle Wahrnehmung und Schulwissen kämpften gegeneinander an – eigentlich müsste es doch unmöglich sein, dass dieses riesengroße Etwas tatsächlich fliegen kann. Doch die AN 124 fliegt tatsächlich und beeindruckt nicht nur die Fachwelt durch ihre Leistungen.

Einfach beeindruckend - die AN 124 "Ruslan"

Rund um die AN 124 war ein Stahlzaun aufgebaut, auf der Aussenseitige eine gewaltige Menschenmenge, auf der Innenseite französisches Sicherheitspersonal. Schier unmöglich schien es, näher an diesen Riesen der Lüfte heranzukommen.

Doch ich wollte es versuchen, und so kramte ich alles, was ich noch an Pressekärtchen hatte, zusammen, zeigte sie einem der Sicherheitsbeamten, doch dieser schüttelte – wie ich es befürchtet hatte – nur den Kopf, zeigte meine Ausweise dann aber gnädigerweise doch dem Kommandanten der russischen Besatzung. Fest mit einem „Njet“ rechnend, kam das für mich schier unglaubliche: in gebrochenem Englisch sagte der Russe „Come in“. Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen. Von missgünstigen Blicken der anderen Besucher begleitet, passierte ich die Absperrung und wurde dem Piloten, Herrn Galunenkoy vorgestellt. Herr Galunenkoy war ein überaus netter, unscheinbarer Mann Mitte 40, den man auf den ersten Blick höchstens eine Karriere am Steuer eines LKW zugetraut hätte. Tatsächlich ist er jedoch Herr über ein Flugzeug mit einem maximalen Startgewicht von knapp 400 Tonnen!

Zu Sowjetzeiten undenkbar: Öffnung der AN 124 für die Massen

Unter seiner fachkundigen Anleitung besichtigte ich das Fahrwerk, ein Wunder für sich. Es besteht aus 24 Rädern, davon 20 am Hauptfahrwerk und 4 am Bugfahrwerk, deren Luftdruck während des Fluges verändert werden kann.

Das beeindruckende Hauptfahrwerk der AN 124; der Luftdruck der Reifen kann während des Fluges verändert werden - Foto: P. Radosta / Austrian Wings

Der Hintergrund ist, dass die AN 124 auch auf unbefestigten Pisten operieren kann, und in diesem Fall rund 30 % weniger Luftdruck in den Reifen erforderlich ist.

Egal, ob Asphalt oder Schotterpiste - die AN 124 ist vielseitig einsetzbar und robust

Doch nun ging’s erst richtig los – extra für mich wurde das Öffnen des mächtigen Bugtores demonstriert (auch am Heck gibt es ein großes Ladetor mit Rampe). Zuvor musste die Hilfsturbine (APU) mit infernalischem Kreischen gestartet werden. Dann öffnete sich bedächtig die gesamte Bugsektion und hob sich bis über das Cockpit; ein Raunen ging durch die Menge, als plötzlich das gesamte Flugzeug zu beben begann und sich langsam vorne zu Boden neigte – die gewaltigen Fahrwerksbeine wurden ruckweise, ganz langsam, nach vorne geschwenkt, der Riese ging gewissermaßen „auf die Knie“, bis er, ruhend auf Stützen, beinahe am Boden auflag.

Die Hydraulik, die den Bug absenkt, erzeugt Geräusche, die an eine Dampflokomotive erinnern - Foto: P. Radosta / Austrian Wings

Fracht kann von vorne und/oder hinten geladen werden, völlig autark von bodengebundener Infrastruktur; im Inneren steht zudem ein Verladekran für die Positionierung der Fracht zur Verfügung

Die AN 124, dieses Meisterwerk der Technik, schient vor seinem Betrachter ergeben zu knien, bereit, die schwersten Lasten auf seine Schultern, Verzeihung, seinen gewaltigen Bauch zu laden. Nun wurde die Rampe ausgefahren, über die ein problemloses Beladen der Maschine möglich ist.

Über die Rampe betraten wir den Rumpf, ein unglaubliches Gefühl, man hat den Eindruck als stünde man in einer riesigen Halle. Ein 10-Tonnen Laufkran kann für die Verteilung der einzuladenden Fracht sorgen, meist jedoch, so die Auskunft des Piloten, fährt die Fracht auf eigener Achse in den Rumpf der Ruslan - Panzer, Hubschrauber, Schützenpanzer, PKW, LKW, Baumaschinen, Bergwerksmaschinen, Bagger, sogar Teile von Flugzeugrümpfen können problemlos verladen werden. Im Gegensatz zu anderen Frachtern, wie der Boeing 747F, ist die Maschine dabei nicht auf bodengebundene Hilfsmittel wie Laderampen oder Hebebühnen angewiesen, sondern vollkommen autark.

Auch die Vereinten Nationen greifen auf die Frachtkapazität der "Ruslan" zurück; unter anderem flog sie Ausrüstungsgegenstände für die UN-Mission in den Tschad

Die Maschine, die ich besichtigen durfte, trug zwar die zivile Bemalung der Aeroflot, dennoch war das militärische Potential der Maschine offensichtlich, beispielsweise konnte sie eine ganze Batterie SS 20 Raketen transportieren!

Ob Hubschrauber ...

... oder Flugzeugrumpf - es gibt (fast) nichts, was die AN 124 nicht transportieren könnte

Weiter ging es über eine Treppe ins Oberdeck – ein Sturz von dieser könnte tödlich enden bei 8 Metern Fallhöhe. Das überaus geräumige Cockpit, das tatsächlich den Namen „Flight Deck“ verdient, bietet einer 6köfpigen Flugbesatzung ausreichend Platz.

Während des Fluges im beeindruckend geräumigen Cockpit

Ein freundlicher Pilot gewährt ein Einblicke ins Cockpit der "Ruslan"

Hinter dem Cockpit befinden sich Schlaf- und Aufenthaltsbereiche für die Besatzung, und hinter den Tragflächen ist eine Kabine für bis zu 88 Personen verfügbar. Da der Frachtraum nicht druckbelüftet ist, kann er während des Fluges nicht betreten werden, erfahre ich.

Hinter dem Cockpit befinden sich Ruheräume für die Besatzung, daran schließt sich ein Abteil für bis zu 88 Personen an

Blick in den Frachtraum - dieser ist nicht druckbelüftet und kann daher während des Fluges nicht betreten werden

Viel zu schnell für meinen persönlichen Geschmack musste ich die Antonov AN 124 „Ruslan“ wieder verlassen. Ohne zu übertreiben kann man sagen, dass der Ingenieursgruppe um Oleg Antonov in Kiev mit der AN 124 ein Meisterentwurf gelungen ist.

Stichwort Antonov AN 124 "Ruslan"

Die Antonov 124 wurde als strategischer Militärtransporter für Streitkräfte der Sowjetunion entwickelt. Der Erstflug erfolgte am 26. Dezember 1982, im Juni 1985 wurde das Muster auf der Paris Air Show erstmals der Weltöffentlichkeit präsentiert. Seit 1986 befindet sich die „Ruslan“ im regulären Einsatz und hat seitdem mehrere Rekorde hinsichtlich der Beförderung schwerer Lasten auf dem Luftweg aufgestellt, so beispielsweise als sie im Jahr 1993 einen 124 Tonnen schweren Generator transportierte.

Geflogen wird die von vier Ivchenko Progress D-18T Turbinen angetriebene Standardversion AN 124-100 von einer sechsköfpigen Cockpitbesatzung, bestehend aus Kapitän, Copilot, zwei Flugingenieuren, einem Navigator sowie einem Funker. Daneben existieren noch folgende Varianten bzw. Projekte der AN 124:

  • An-124-100W : Version der An-124-100 mit Vorrichtungen zur Lärmreduzierung der Triebwerke
  • An-124-100WS : Version für den Start der Weltraumrakete "Poljot" in der Luft; auch als An-124-100AL (Air Launch) bezeichnet; erster Einsatz ab 2012 geplant
  • An-124-100M : Modernisierte Version mit zum Teil westlicher Avionik und reduzierter Lärmemission
  • An-124-100-150 : Version der An-124-100M, aber für eine Nutzlast von 150.000 kg verifiziert
  • An-124-100M-150 : geplante Neuproduktion der An-124-100M, aber für eine Nutzlast von 150.000 kg verifiziert
  • An-124-100MW : Version der An-124-100M mit Vorrichtungen zur Lärmreduzierung der Triebwerke
  • An-124-102 : Projekt der An-124-100M mit einem digitalen Cockpit und einer Besatzung von drei Mann
  • An-124A : Projekt mit verbesserten Start- und Landeeigenschaften um auch auf Flugplätzen mit kürzerer Start- und Landebahn operieren zu können
  • An-124-130 : Projekt der An-124-100 mit vier General Electric CF6-80
  • An-124-200 : Projekt der An-124-100 mit vier General Electric CF6-80C2
  • An-124-210 : Projekt der An-124-100 mit vier Rolls-Royce RB211-524H-T
  • An-124-220 : Projekt der An-124-100 mit vier, nicht näher bezeichneten, westlichen Triebwerken
  • An-124-300 : Projekt einer Version der An-124-100 mit um 6 m verlängertem Rumpf, größerer Spannweite, westlichen Triebwerken und Avionik und deutlich verbesserter Reichweite (bei einer Nutzlast von 120.000 kg bis zu 10.000 km bzw. 150.000 kg bis zu 8.130 km)
  • An-124FFR : Projekt einer Feuerlöschversion

Es wurden bislang rund 60 Antonov AN 124 produziert, von denen seit 1992 vier Maschinen durch Flugunfälle verloren gegangen sind. Dabei kamen rund 100 Menschen ums Leben.

Laut Berichten der Nachrichtenagentur RIA Novosti hat das russische Verteidigungsministerium auf der Luftfahrtmesse MAKS in Moskau 2009 die Wiederaufnahme der Produktion der AN 124 beschlossen.

Betreiber:

Der größte Betreiber der AN 124 ist naturgemäß das russische Militär das rund 25 Maschinen betreibt, die ukrainischen Luftstreitkräfte sollen über sieben AN 124 verfügen.

Zivile Betreiber der AN 124 sind gegenwärtig Lybian Arab Air Cargo mit zwei Maschinen, die russischen Frachtfluggesellschaften Volga Dnepr (10) und Polet Airlines (8). Weiters die Antonov Airlines des Antonov Design Bureaus mit 7 Maschinen, die Maximus Air Cargo aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (1) und Air Cargo Bulgaria (1). Einige der oben angeführten Betreiber haben bereits weitere Maschinen bestellt.

Ein Sturz wäre tödlich - die "Ruslan" ist so hoch wie ein etwa achtstöckiges Haus!

Technische Daten AN 124-100:

  • Rumpflänge: 71 Meter
  • Spannweite: 64 Meter
  • Höhe: 24 Meter
  • Flügelfläche: ca. 580 Quadratmeter
  • Reisegeschwindigkeit: ca. 800 km/h
  • Maximale Zuladung: 120.000 Kilogramm
  • Leergewicht: 175.000 Kilogramm
  • Maximale Treibstoffzuladung: 214000 Kilogramm
  • Maximales Startgewicht: 392.000 Kilogramm
  • Reichweite mit voller Zulasung: ca. 4.500 Kilometer (auch abhängig von den Wetterbedingungen)
  • Mindeststartstrecke mit maximaler Zuladung: 3.000 Meter (auch abhängig von den Wetterbedingungen)
  • Landestrecke: rund 900 Meter
  • Dimensionen des Frachtraumes: 36,5m x 6,4m x 4,4m
  • Gesamtvolumen des Frachtraumes: 1050 Kubikmeter
  • Dimensionen der Frachtraumtore (vorne und hinten): 6,4m x 4,4m

Trotz der im Vergleich zu westlichen Frachtern hohen Unterhalts- und Betriebskosten, bewährt sich die AN 124 auch im Jahr 2009 innerhalb des Luftrachtgeschäftes in einem Nischensegment ausgezeichnet, da sie durch die Möglichkeit, von unbefestigten Pisten aus zu operieren und den Umstand, am Boden völlig autark be- und entladen zu werden, ohne Konkurrenz ist. Und durch laufende Modernisierungsprogramme (Ausrüstung der Maschinen mit westlichen Triebwerken und westlicher Avionik) wird sich daran auch in den nächsten Jahren vermutlich nichts ändern.

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Links:

Antonov

Antonov Airlines (bei Wikipedia)

Polet Flight

Volga Dnepr Airlines

Fotos der AN 124 (Airliners.net)

Blufly (Homepage des Autors)

Text: Paul Bierl
Mitarbeit: CvD
Fotos (sofern nicht anders angegeben): Polet Flight
Videos: Youtube