Samstag, 3. Oktober 1992: Die 1979 von Boeing direkt an die israelische Staatsfluglinie El Al Cargo ausgelieferte Boeing 747-258F mit der Registrierung 4X-AXG verlässt den Flughafen von Tel Aviv und nimmt Kurs auf den deutschen Flughafen Köln-Bonn, wo sie rund vier Stunden später landet. Nach einem Bodenaufenthalt startet der Jumbo mit Ziel New York. Beide Flüge verliefen ohne besondere Vorkommnisse.
In der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober hebt die 747 mit Kapitän M. Sitbon am Steuer vom New Yorker John F. Kennedy Flughafen ab. Das Ziel ist die niederländische Metropole Amsterdam. Nach acht Stunden Flugzeit landet die 4X-AXG Sonntagmachmittag um 14:31 Uhr auf der Piste 06 (Kaagbaanm) des Flughafens Schiphol und erreicht ihre zugewiesene Parkposition 9 Minuten später um 14:40 Uhr. Während dieses Fluges wurden einige kleinere Mängel beanstandet. So gab es Probleme mit dem Autopiloten, der die vorgewählte Geschwindigkeit nicht exakt einhielt, mit dem Kurzwellenfunkgerät sowie Spannungsschwankungen im Generator des Triebwerks Nummer 3. Keiner der vermerkten Mängel ist jedoch schwerwiegend oder würde zur Fluguntauglichkeit der Maschine führen.
Auf einer niederländischen Webseite ist ein Foto der letzten Landung der 4X-AXG zu sehen. Einige Fachleute meinen, darauf bereits eine Fehlstellung von Triebwerk Nummer 3 erkennen zu können.
15 Uhr: In Amsterdam wird neue Fracht in den Rumpf der mächtigen Maschine geladen. Dabei handelte es sich laut Zollpapieren um Blumen, Parfum, Computerteile, Elektronik, Autoteile und Textilien. Verantwortlicher El Al Operations-Manager ist Jerry Plettenberg. Eine physische Kontrolle der Ladung durch die niederländischen Behörden findet nicht statt. Insgesamt befinden sich nach Abschluss des Beladevorgangs 114,7 Tonnen Fracht im Bauch der 747, von denen 6,5 Tonnen als nicht näher spezifizierte "dangerous goods" gekennzeichnet sind.
Plettenberg wird Jahre später in einem Fernsehinterview aussagen, dass es nicht ungewöhnlich war, dass El Al Frachter auch Rüstungsgüter beförderten. Konkret sprach er von Kampfhelikoptern, Flugzeugteilen, Raketen oder Flugzeugtriebwerken. Im Jahr 1995 zeigte er seinen ehemaligen Arbeitgeber sogar wegen Urkundenfälschung an, das Verfahren wurde jedoch eingestellt.
Die neue Crew des Jumbos trifft gegen 17:20 Uhr bei ihrer Maschine ein und besteht aus Kapitän Itzhak Fuchs, der am 21. Januar 1933 in Polen geboren wurde und seit 28 Jahren für El Al fliegt, dem Ersten Offizier Arnon Ohad (32) und Flugingenieur Gedalya Sofer (61), ebenfalls ein gebürtiger Pole. Sofer steht zu diesem Zeitpunkt seit fast 43 Jahren in den Diensten des israelischen Nationalcarriers. Fuchs, der Kommandant, gilt als hochqualifizierter und erfahrener Flugzeugführer. Er flog unter anderem die de Havilland Mosquito für die israelische Luftwaffe und war später in die zivile Luftfahrt gewechselt. Sein Logbuch weist 25.000 Flugstunden aus, davon 9.500 auf der Boeing 747. Der 32-jährige Arnon Ohad hat zu diesem Zeitpunkt 4.288 Stunden in seinem Flugbuch stehen, davon 612 auf dem Jumbo. Gedalya Sofer hat die Berechtigung als Flugingenieur für die Muster Boeing 707 und 747. Von seinen 26.000 Stunden Erfahrung hat er 15.000 auf der Boeing 747 gesammelt.
Zusätzlich zur fliegerischen Besatzung nimmt die 23-jährige Anat Solomon im Oberdeck der Boeing 747 Platz. Sie will am 5. Oktober ihren 24. Geburtstag gemeinsam mit ihrer Familie in Israel feiern. Die junge Frau ist zu diesem Zeitpunkt mit Itzik Levi, einem auf dem Flughafen Schiphol stationierten El Al Sicherheitsoffizier, verlobt. Er soll ihr in wenigen Tagen nach Israel folgen. Die Hochzeit der beiden ist für Januar 1993 geplant. Es soll ein "großes Fest" werden, wie ihre Eltern später gegenüber Medien erklärten.
Das Bodenpersonal tankt die Maschine auf – insgesamt befinden sich 74 200 Kilogramm Kerosin in den Tanks der Boeing 747. Schließlich geben die El Al Techniker Gaalman und O'Neill den Jumbo technisch für den bevorstehenden Flug nach Tel Aviv frei.
Mit rund 45 Minuten Verspätung verlässt die Boeing 747 als Flug El Al 1862 um 18:13 Uhr Lokalzeit ihre Parkposition und rollt zur Piste 01L (Zwanenburgbaan). Dabei wird der Jumbo von einem Fahrzeug des El Al Sicherheitsdienstes begleitet.
Das Wetter ist gut, die Sichtweite beträgt 15 Kilometer, der Wind weht mit 25 Knoten aus Nordosten. Die Temperatur liegt bei etwa 14 Grad Celsius.Die Besatzung hat allen Grund, einen ereignislosen Flug zu erwarten und freut sich vermutlich auf die Heimkehr nach Israel.
Um 18:20:52 Uhr schiebt Kapitän Fuchs die Schubhebel nach vorne, langsam setzt sich die 338,3 Tonnen schwere Boeing 747 in Bewegung. Nach 60 Sekunden lösen sich die Räder des Flugzeuges von der Piste und der Jet steigt in den herbstlichen Abendhimmel, gesteuert vom Ersten Offizier Arnon Ohad, der als Pilot Flying fungiert, während Kapitän Fuchs den Funkverkehr übernimmt und seinem Kollegen assistiert.
Das Drama nimmt seinen Lauf
Der Flug verläuft zunächst ohne besondere Vorkommnisse. Knapp 7 Minuten nach dem Start passiert die 4X-AXG das Gooimeer, einen See nahe Amsterdam, in einer Höhe 6.500 Fuß, als plötzlich ein lauter Knall zu vernehmen ist und die Instrumente im Cockpit einen Leistungsverlust auf Triebwerk Nummer 3 anzeigen. Unmittelbar darauf liefert auch Triebwerk Nummer 4 keine Leistung mehr. Die Feuerwarnung für Triebwerk Nummer 3 schrillt auf, die 747 rollt scharf nach rechts und beginnt rapide an Höhe zu verlieren. Kapitän Fuchs übernimmt sofort die Steuerung, der Erste Offizier Ohan erklärt über Funkt mit den Worten "El Al one eight six two, Maday! Mayday! We have an emergency!" einen Notfall.
Auf die Frage des Fluglotsen, ob sie nach Schiphol zurückkehren wollen, antwortet Ohan: "Affirmative, Mayday! Mayday! Mayday!"
Die Flugverkehrskontrolle weist El Al 1862 daraufhin an, nach rechts auf Kurs 260 Grad zu drehen.
Ohan antwortet: "Roger, we have fire on engine number three, we have fire on engine number three."
Um 18:28 Uhr funkt die Besatzung: "El Al 1862, lost number three and number four engine, number three and number four engine."
Anmerkung der Redaktion: Die Phrase "lost" wird in der Luftfahrt üblicherweise für den "Ausfall" eines Triebwerkes oder eines Systems verwendet und kennzeichnet nicht zwangsläufig den physischen Verlust eines Teiles.
Die Maschine dreht dabei weiter nach Westen und sinkt auf 4.000 Fuß, während die Besatzung alle Mühe hat, die Kontrolle über die havarierte 747 zu behalten. Nach rund 30 Sekunden gelingt es Fuchs, den Jumbo zu stabilisieren.
Jet verlor während des Fluges zwei Triebwerke
Doch die drei Männer im Cockpit schätzen die Situation völlig falsch ein. Sie gehen nach wie vor von einem doppelten Triebwerksausfall, möglicherweise einem Triebwerksbrand, auf der rechten Seite sowie Problemen mit dem Hydrauliksystem aus. Ein solcher Notfall wäre bei einem voll beladenen Frachtjumbo zwar durchaus ernst, aber zumindest beherrschbar, jedenfalls für eine derart erfahrene Besatzung. Fuchs und seine Crew haben allerdings keine Kenntnis darüber, dass die Situation weitaus schlimmer ist. Denn in 6.500 Fuß hatte sich Triebwerk Nummer 3 unter Volllast von der Tragfläche gelöst, war mit Triebwerk Nummer 4 kollidiert und hatte dieses ebenfalls von der Tragfläche gerissen. Dabei wurden die Nasenkante und die Vorflügel des rechten Flügels, die Landeklappen sowie die Verkleidung großflächig beschädigt.
Insgesamt gingen so rund 10 Quadratmeter Flügelfläche verloren, außerdem fielen durch geborstene Leitungen auch noch zwei der vier Hydrauliksysteme aus. Das pneumatische System wurde ebenfalls schwer beschädigt. Die Feuerwarnung für Triebwerk Nummer 3 wurde anschließend vermutlich aufgrund eines Kurzschlusses durch zerstörte elektrische Leitungen ausgelöst. Doch von ihrem Cockpit aus haben die drei Männer keinen Blick auf die inneren Triebwerke und nur eingeschränkte Sichtmöglichkeiten auf die äußeren Turbinen und der hintere Teil des Oberdecks Oberdeck ihres 747-Frachters - wo sich Anat Solomon zu diesem Zeitpunkt vermutlich aufhält, sofern sie sich nicht bei den drei Männern im Cockpit befindet, - verfügt über keine Fenster, aus denen man einen Blick auf die rechte Tragfläche hätte werfen können.
Zwischen 18:29 Uhr und 18:31 Uhr versucht die Besatzung von El Al 1862 weiter ihre angeschlagene Maschine zu stabilisieren. Es gelingt ihr, ein gewisses Maß an Kontrolle zurück zu erlangen. Der Jumbo steigt von 4.100 Fuß auf rund 5.000 Fuß, die Geschwindigkeit nimmt dabei ab.
Die Flugverkehrskontrolle informiert Flug 1862, dass die Piste 06 für Landungen in Betrieb sei und gibt die Wetterdaten durch. Der Wind kommt mit 21 Knoten aus Nord-Nord-Ost. Kapitän Fuchs erbittet trotz des Rückenwindes die Freigabe auf Piste 27 (Buitenveldertbaan) zu landen, da er fürchtet, vollständig die Kontrolle über seine Maschine zu verlieren. Womöglich geht er auch davon aus, dass das vermeintliche Triebwerksfeuer auf die Tragfläche oder den Rumpf übergreifen könnte und will deshalb so rasch wie möglich landen.
Seitens der Fluglotsen wird dem Wunsch des Kapitäns entsprochen, die Feuerwehr- und Rettungskräfte werden am Boden entsprechend positioniert.
Zu diesem Zeitpunkt befindet sich El Al 1862 aber noch zu nahe am Flughafen um den Landeanflug beginnen zu können. Deshalb fliegt die Besatzung Schleifen, um sich von der Stadt zu entfernen, Höhe abzubauen und schließlich auf den Landekurs einzuschwenken. Um 18:33:45 Uhr erteilt der zuständige Fluglotse El Al 1862 die Landefreigabe. Während des zweiten Manövers weist Fuchs den ersten Offizier Ohad an, die Landeklappen auszufahren. Durch die beschädigten Hydraulikleitungen und Landeklappen fahren die Klappen jedoch nur auf der linken Tragfläche aus.
Dadurch erhält die unbeschädigte linke Tragfläche wesentlich mehr Auftrieb. In Verbindung mit den schweren Beschädigungen an der rechten Tragfläche, von denen die Crew nach wie vor keine Kenntnis hat, und durch die reduzierte Geschwindigkeit reißt die Strömung allmählich an der Steuerbordtragfläche ab. Die Besatzung meldet jetzt zusätzlich Probleme mit der Steuerung.Es ist 18:35 Uhr.
Das Ende: Absturz 15 Minuten nach dem Start
Die Boeing 747 kippt in einer Höhe von etwa 2.500 Fuß abrupt nach rechts, als der Auftrieb am rechten Flügel vollständig zusammenbricht, nimmt letzten Endes eine 90 Grad Schräglage ein und stürzt mit gesenkter Nase in Richtung Boden.
Völlig überrascht von dieser Reaktion seiner Maschine erhöht Kapitän Fuchs den Schub auf den verbliebenen beiden linken Triebwerken und schreit seinen Ersten Offizier auf Hebräisch an, die Landeklappen ein- und das Fahrwerk auszufahren. Fuchs versucht zu retten, was nicht mehr zu retten ist, während die Maschine sich mit rasender Geschwindigkeit dem Boden nähert und im Cockpit der "Stick Shaker", welcher die Besatzung auf den Strömungsabriss aufmerksam machen soll, aktiviert wird.
Um 18:35:25 Uhr erfolgt der letzte Funkspruch von First Officer Ohad an die Bodenkontrolle von Amsterdam: "Going down, 1862, going down, going down, copied, going down." Seine Stimme klingt dabei ruhig und gefasst, keine Spur von Panik. Bis zuletzt kämpft die erfahrene Crew um die Kontrolle über die 747 und damit um ihr Leben - vergebens. Ein YouTube-User wird das Verhalten der Crew noch 20 Jahre später trocken voller Bewunderung mit den Worten: "Amazing calmness in the face of death" kommentieren.
Sekunden später stürzt die völlig außer Kontrolle geratene Boeing 747 mit ausgefahrenem Fahrwerk im südöstlichen Amsterdamer Stadtteil Bijlmermeer in ein zehnstöckiges Wohnhaus und explodiert. Vom Kontrollturm des Airports aus sehen die Fluglotsen eine dichte Rauchwolke über der Stadt aufsteigen. Es ist 18:35:42 Uhr.
Inferno am Boden
Mehr als 50 Wohnungen, dazu zahlreiche Bäume, Sträucher und Rasenflächen gehen in Flammen auf. Die 72.000 Kilo Kerosin aus den Tanks der Boeing 747 wirken wie ein Katalysator, fachen die Brände weiter an. Es ist ein Inferno, wie es Amsterdam noch nicht erlebt hat. Der Stadtteil gleicht einem Kriegsgebiet, Flammen, Tod und Verzweiflung sind allgegenwärtig. Seit dem Start vom Flughafen Schiphol sind 15 Minuten vergangen. Die Stadt Amsterdam ist in diesem Moment eine andere geworden.
Wenige Minuten nach dem Crash treffen die ersten Feuerwehr- und Rettungskräfte am Ort des Geschehens ein und beginnen damit, die Flammen zu bekämpfen, Überlebende zu lokalisieren, sie zu retten und zu versorgen. Die Krankenhäuser der Umgebung werden in höchste Alarmbereitschaft versetzt und bereiten sich darauf vor, Überlebende des Absturzes aufzunehmen.
Doch für die vier Insassen der Unglücks-Boeing, Itzhak Fuchs, Arnon Ohad, Gedalya Sofer und die erst 23-jährige Anat Solomon, die für ihre Hochzeitsvorbereitungen nach Israel fliegen wollte, kommt jede Hilfe zu spät. Sie starben bei dem Crash, der, so wird es der Untersuchungsbericht später nüchtern feststellen, aufgrund der enormen Aufschlagsenergie nicht zu überleben war. Mit ihnen finden nach offiziellen Angaben 39 Bewohner des Häuserkomplexes den Tod, 20 weitere werden zum Teil schwer verletzt in die Spitäler eingeliefert. Da in diesem Stadtteil jedoch viele illegale Einwanderer leben, gibt es bis heute Stimmen, die von einer deutlich höheren Opferbilanz ausgehen, von bis zu "mehreren hundert Toten" ist die Rede. Dutzende Menschen sind zwar mit dem Schrecken davongekommen, aber von einer Sekunde auf die andere obdachlos geworden, haben all ihr Hab und Gut innerhalb weniger Augenblicke verloren. Diese Verzweifelten müssen nun in Notunterkünften untergebracht werden, wo sie von Freiwilligen aufopferungsvoll betreut werden, welche die staatlichen Einsatzkräfte unterstützen.
Ursachenforschung
Unmittelbar nach dem Unglück begann die Suche nach der Absturzursache. Aufgrund der politischen Situation im Nahen Osten schien zunächst ein Terroranschlag durchaus wahrscheinlich. Die beiden im Gooinmeer gefundenen Triebwerke sowie ein 10 Meter langes Stück der rechten Tragfläche wurden auf Sprengstoffspuren untersucht, doch das Ergebnis war negativ. Von diesem Moment an konzentrierten sich die Ermittler auf technische Probleme als Auslöser des Unglücks. Parallel dazu lief die Suche nach dem Flugschreiber und dem Cockpit Voice Recorder an der Absturzstelle weiter. Ersterer war schwer beschädigt, konnte von Experten in den USA jedoch ausgewertet werden. Der Cockpit Voice Recorder dagegen wurde nie gefunden. Bis heute ist unklar, ob überhaupt ein solches Gerät in der verunglückten 747 installiert war. El Al behauptete jedenfalls, dass die Maschine über einen Cockpit Voice Recorder verfügte. Einige Medien, wie etwa der "Spiegel" berichteten, dass der Cockpit Voice Recorder zunächst an der Absturzstelle gefunden, kurz darauf jedoch gestohlen worden sei.
Gebrochener Bolzen löste die Katastrophe aus
Schlussendlich fanden die Ermittler heraus, dass einer von vier Haltebolzen des rechten inneren Triebwerkes (Engine No. 3) während des Steigfluges brach. Die sich dadurch lösende Turbine riss auch das zweite Triebwerk mit, wodurch ein 10 Meter langes Teil der Tragflächenvorderkante ebenfalls abriss und mehrere hydraulische sowie pneumatische Systeme beschädigt wurden. Die Aerodynamik des rechten Flügels war dadurch enorm verschlechtert. Durch die Schwere der Beschädigungen war es, so stellte sich im Laufe der Untersuchungen heraus, auch unmöglich, das Flugzeug langsamer als 260 Knoten, rund 450 Stundenkilometer, zu fliegen. Mit einer solch hohen Geschwindigkeit aber wäre jede Landung unmöglich gewesen. Mit anderen Worten ausgedrückt: Egal, was die Crew auch versucht hätte, der Jet wäre in jedem Fall abgestürzt, ungeachtet dessen, ob die Besatzung das wahre Ausmaß der Beschädigungen erkannt hätte. Von dem Moment an, als El Al 1862 die beiden rechten Triebwerke verloren hatte, waren die 747 und ihre vier Insassen dem Tode geweiht.
Wartungsvorschriften geändert
Die Ursache für das Versagen des 14 Zentimeter langen Bolzens konnte niemals genau ermittelt werden. In Frage kommen sowohl ein Ermüdungsbruch als auch ein Materialfehler. Der US-Flugzeughersteller Boeing ordnete daraufhin eine Änderung der Wartungsvorschriften an, beziehungsweise potentiell betroffene Bolzen auszutauschen.
Mysteriöse Krankheitsfälle, Spekulationen um die Ladung, Ungereimtheiten
Bereits kurz nach dem Unglück häuften sich im betroffenen Stadtteil von Amsterdam mysteriöse Krankheitsfälle. Betroffen waren sowohl Anrainer als auch Angehörige von Polizei, Rettungsdienst und Feuerwehr, bis heute insgesamt an die 1.000 Menschen. Darunter sollen sich auch 250 Mitarbeiter einer niederländischen Fluglinie befinden, in deren Hangar damals die Wrackteile des Unglücks-Jumbos zwischengelagert wurden. Sie klagen über verschiedene Symptome, beispielsweise Haarausfall, Müdigkeit, neurologische Beschwerden, Übelkeit, Hautausschläge oder nicht abheilende nässende Ekzeme. Außerdem gibt es laut lokalen Ärzten auffällig viele Frühgeburten, Missbildungen bei Kindern und eine Häufung von Gebärmutterkrebs berichtet die Tageszeitung "Welt" im Jahr 1996, vier Jahre nach dem Absturz.
Schon bald kam daher der Verdacht auf, dass diese Erkrankungen in Zusammenhang mit der Ladung des verunglückten El Al Jumbos stehen könnten, was allerdings sowohl von niederländischer als auch israelischer Seite über Jahre hinweg vehement bestritten wurde.
Augenzeugen wollen jedenfalls unmittelbar nach dem Crash an der Absturzstelle Personen in Schutzanzügen gesehen haben, die systematisch Spuren beseitigt hätten, noch bevor die Flammen vollständig gelöscht gewesen seien. Für einen Teil der Fracht, die Angaben schwanken zwischen 6 und 40 Tonnen, lag keine Papiere vor. Laut einem Forenbeitrag auf der Internetseite "defence.pk" seien in den Jahren nach dem Crash außerdem 12 Stunden Videomaterial (insgesamt 42 VHS-Kassetten) von den Aufräumarbeiten sowie Audiomaterial der Polizei vernichtet worden. Im Gespräch mit der "Welt" sagte der Amsterdamer Luftfahrtspezialist Vincent Dekker, der ein Buch über den Absturz geschrieben hat, dass "auf jeden Fall Chemikalien an Bord gewesen sind."
Doch noch am 22. April 1998 erklärte der israelische Transportminister Shaul Yahalom öffentlich, dass keine gefährlichen Güter an Bord des Jumbos gewesen seien. Am 4. Oktober des gleichen Jahres allerdings veröffentlichte die angesehene Rotterdamer Zeitung "NRC Handelsblad" einen Teil der bis dahin geheim gehaltenen Frachtliste, wonach zumindest 10 Tonnen Chemikalien an Bord der 747 befördert worden seien, darunter hochtoxische Stoffe wie Dimethylmethylphosphonat, kurz DMMP, das Bestandteil des Kampfstoffes Sarin, eines Nervengases, ist. El Al musste schließlich zugeben, dass Flug 1862 insgesamt 190 Liter DMMP nach Tel Aviv befördern sollte.
El-Al-Sprecher Nachman Kleiman erklärte dabei im sprichwörtlichen gleichen Atemzug, der Transport von DMMP habe nichts zu bedeuten, schließlich transportiere man auch Zucker, was aber kein Beweis dafür sei, dass man auch Kuchen transportiere. Aus politischen Kreisen in Israel hieß es nachträglich, dass man das DMMP lediglich benötige, um die Dichtigkeit der Filter von Gasmasken zu prüfen.
Doch auch Munition und Raketen, deren Treibstoff ebenfalls aus chemischen Bestandteilen besteht, werden mittlerweile an Bord des Frachters vermutet, ebenso wie weitere bisher nicht bekannte Chemikalien. Ebenfalls als tickende Gesundheits-Zeitbombe zählen die 1.500 Kilogramm abgereicherten Urans, die als Ausgleichsgewicht in der 747 verbaut waren.
Schon im Jahr 1998 beklagten die Ärzte des "Akademischen Krankenhauses" von Amsterdam laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins "Spiegel", dass sie "die Patienten nicht angemessen behandeln können, solange sie nicht wissen, mit welchen Giftstoffen sie in Berührung kamen." Doch die Israelis hätten laut Spiegel "stets jede Zusammenarbeit verweigert."
Im gleichen Artikel des deutschen Nachrichtenmagazins (Ausgabe 41/1998) wird auch Rob van Gijzel, "Luftfahrtexperte der niederländischen Arbeiterpartei PvdA" zitiert: "Um Sarin herzustellen, braucht man vier Komponenten. In dem abgestürzten Flugzeug waren drei davon, außerdem wahrscheinlich noch eine Menge Materialien, von denen wir keine Ahnung haben."
Weiters gehe, so der "Spiegel", aus einem "angekohlten Schriftstück, das bei den Aufräumarbeiten gefunden wurde", hervor, dass an Bord der 747 unter anderem "Munition sowie Teile für Sidewinder-, Hawk- und Patriot-Raketen und F-16-Düsenjäger" gewesen sein sollen.
Eine parlamentarische Untersuchung - gegen den Willen der damaligen niederländischen Regierung - stellte im Jahr 1999 fest, dass es offenbar wöchentliche nicht offizielle Frachtflüge von El Al zwischen New York und Tel Aviv mit einem Zwischenstopp in Amsterdam gegeben habe, wichtiges Untersuchungsmaterial von der Unfallstelle entfernt worden sei und die Regierung darüber hinaus das Parlament über die Anwesenheit von Unbekannten in Schutzanzügen an der Unfallstelle unzureichend informiert habe.
Henk van der Belt, ein Privatermittler im Auftrag der Bewohner von Bijlmeer tätig war, erklärte, dass er davon ausgehe, dass der Flughafen Amsterdam Schiphol zu dieser Zeit überhaupt "ein Hub für geheime Waffentransporte" gewesen sei.
Gleichfalls kritisch mit dem Unglück auseinandergesetzt hat sich der niederländische Journalist Pierre Heijboer, der unter dem Titel "Doemvlucht - de verzwegen Geheimen van de Bijlmeeramp" die, seinen Recherchen nach zahlreichen, Ungereimtheiten in Zusammenhang mit der Tragödie aufgearbeitet hat.
Die volle Wahrheit über die mysteriöse Ladung von Flug El Al 1862 dürfte also vermutlich noch viele Jahre im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben, wenn sie denn überhaupt jemals ans Licht kommen sollte.
Gedenken
Der beim Absturz von El Al 1862 schwer beschädigte Wohnblock wurde später abgerissen. In seiner Nähe befindet sich heute ein Mahnmal für die Opfer der Katastrophe, an dem regelmäßig Gedenkveranstaltungen abgehalten werden.
Viele der Anwohner haben ihrem Viertel den Rücken gekehrt und leiden bis heute – 20 Jahre danach - an den physischen und psychischen Folgen jenes Tages.
Dieser Bericht ist den vier Insassen von El Al 1862, den namentlich bekannten und unbekannten Opfern der Tragödie, sowie ihren Hinterbliebenen und Freunden in respektvoller Erinnerung gewidmet.
(red)