Austrian Wings hat sich im Laufe der vergangenen Jahre mehrfach intensiv mit diesem Thema, unter Beteiligung international renommierter Experten und Gutachter, auseinandergesetzt. War es früher ausnahmslos vorgesehen, die Sitzplätze in den sogenannten "Exit Rows", also bei Notausstiegen, erst beim unmittelbaren persönlichen Check-In-Vorgang zuzuweisen, hat mittlerweile die Praxis Einzug gehalten, diese Sitze - vornehmlich auf Grund der größeren Beinfreiheit - bereits vorab gegen Aufpreis (!) zu verkaufen.
Zahlreiche Airlines folgen, bevorzugt auf Langstreckenflügen, dieser Strategie, die zwar für gewisse Mehreinnahmen auf der Haben-Seite sorgt, jedoch in vielen Fällen nicht zu unterschätzende Sicherheitsrisiken auf der Soll-Seite aufwerfen kann. Kommt es zu einem Notfall, der die rasche Evakuierung eines Flugzeuges erforderlich macht, ist Geschwindigkeit das Um und Auf. Passagiere, die bei einem Notausgang sitzen, müssen physisch in der Lage sein, die Türe zu bedienen, die Funktionsweise des Notausstiegs demzufolge begriffen haben und auch mental in der Verfassung sein, in Ausnahmesituationen möglichst Ruhe zu bewahren, um bei der Aktivierung des Emergency Exits behilflich sein zu können. Im Umkehrschluss bedeutet das natürlich auch, zu wissen, was man ohne tatsächlichen Notfall besser nicht angreift.
Verkaufte Sicherheit?
"Wenn man diese Plätze nun im Vorfeld verkauft, kann man dies nicht mehr sicherstellen, weil man ja nicht mehr weiß, wer der Passagier ist, dem man diesen Sitzplatz verkauft hat", ärgert sich Tim van Beveren, selbst Pilot, Fachjournalist und Berater in aviatischen Sicherheitsfragen. Zwar hat das Kabinenpersonal die (theoretische) Kompetenz, einen möglicherweise ungeeigneten Fluggast aus der Exit Row zu bitten und ihm einen anderen Sitzplatz zuzuweisen, jedoch sieht van Beveren in einem solchen Fall die Querelen unausweichlich: "Der Passagier hat ein Recht auf diesen Sitzplatz, da er ihn ja bezahlt hat. Da sind Diskussionen vorprogrammiert, die auf dem Rücken der Flugbegleiter ausgetragen werden!" Er vermutet zudem, dass viele Airlines womöglich ihr Kabinenpersonal sogar dahingehend instruieren, "ein Auge zuzudrücken" und es mit Sicherheitsreglements rund um die Notausstiege nicht so genau zu nehmen.
Für Tim van Beveren ist es unabdingbar, dass einem Fluggast, der in einer Exit Row sitzt, uneingeschränkt klar ist, wie dieser Notausstieg funktioniert. Dazu gehört, dass der Passagier vor dem Abflug persönlich durch das Kabinenpersonal angesprochen und instruiert wird. Und auch da sieht der erfahrene Pilot ein großes Manko, wie er im Austrian Wings Gespräch bekräftigt: "Das wird von den Airlines geflissentlich heruntergespielt!"
Tatsächlich könnte der gezielte aufpreispflichtige Direktverkauf von "Notausstiegs-Sitzen" dazu führen, dass Kabinencrews darüber hinwegsehen, die Passagiere eingehend auf deren diesbezügliche Eignung zu prüfen und anschließend mit der Funktionsweise der Türe vertraut zu machen. Umso mehr in Zeiten, die bei sehr vielen Airlines ohnehin wenig rosig aussehen. Es muss daher auch die Frage gestellt werden, wie gewissenhaft das Airline-Personal sämtliche sicherheitsrelevanten Tätigkeiten wahrnehmen kann, wenn an allen Ecken und Enden Personalknappheit herrscht.
Ob im AUA-A321 jener Passagier, der den unfreiwilligen Notruschen-Test ausgelöst hat, im Vorfeld genau darüber aufgeklärt worden war, wie genau unter welchen Umständen mit der Notausstiegstüre zu verfahren ist, bleibt vorerst offen. Natürlich sind Zweifel insofern berechtigt, als es nach einer ordnungsgemäßen Instruktion wahrscheinlich zu keinem Zwischenfall gekommen wäre. Doch die Schuld auf die Flugbegleiter alleine abzuwälzen, wäre wohl grundverkehrt. Gerade bei Austrian arbeiten die Kabinenbesatzungen aktuell mitunter am Limit - oder sogar darüber hinaus, wie Flugbegleiterin Doris Hauser erst kürzlich im Rahmen einer Presseveranstaltung darlegte: "Es herrscht extremer Personalmangel. Es kann der Urlaub nicht gewährt werden, wir bekommen unsere Mehrleistungstage nicht, Teilzeitarbeitsmodelle werden gestrichen - die Stimmung in der Belegschaft ist im Keller. Es herrscht Angst, Verunsicherung, Resignation." Selbst an eigentlich dienstfreien Tagen würden Flugbegleiter zum Dienst gerufen, um die Rotationen aufrecht erhalten zu können. Vor zwei Tagen musste etwa ein AUA-Flug nach New York ausfallen, da nach der Krankmeldung eines Mitarbeiters offensichtlich keine Ressourcen für dessen Vertretung vorhanden waren.
Es darf also, und zwar ganz unabhängig eines Zwischenfalls, zu Recht angezweifelt werden, ob unter Berücksichtung der prekären personellen Situation und den damit verbundenen Arbeitsbedingungen an sich - wobei die AUA sicherlich keinen Einzelfall darstellt! - und an so manchen Ecken und Enden immer schwammiger werdenden Sicherheitsgrundlagen, die unterm Strich oft nur dem Profitgewinn einer Airline dienlich sind, die Arbeitsleistung der Besatzungsmitglieder in jenem Umfang erbracht werden kann, wie es wünschenswert beziehungsweise nötig erscheint.
Diese Erfahrung machten vergangenen Sommer auch zwei Austrian Wings-Redaktionsmitglieder. Obwohl in einer Exit Row platziert, wurden sie auf die besonderen Umstände dieser Sitzplätze in keiner Form hingewiesen. Dass es sich bei den Passagieren rein zufällig um einen ehemaligen Piloten und eine Flugbegleiterin handelte, konnte die Airline freilich nicht wissen. "Otto Normalverbraucher" wäre, ganz ohne Instruktion, vielleicht im Ernstfall überfordert gewesen.
Shooting Star?
In Larnaca hat ein Passagier aus Versehen die Notrutsche "geschossen" - weil er ganz offensichtlich nicht wusste, was zu tun ist, wo er wann hingreifen soll, und wovon die Finger zu lassen sind. Aber vielleicht ist so ein Abenteuer ja im Aufpreis für den vorab buchbaren Extra-Komfort in der Exit Row ohnehin inkludiert.
(red Aig / Titelfoto, Symbolbild: Christian Rasmussen)
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