Reportagen

Mayday über dem Atlantik - der Schicksalsflug von Swissair 111

"Guten Abend, ich begrüße Sie. Das ist der Tag, der in die Geschichte eingehen wird als der schlimmste für die Swissair." Mit diesen bewegenden Worten leitete die Nachrichtensprecherin des ersten Schweizer Fernsehens (SF 1) nach dem Absturz von Swissair 111 ihre Moderation ein. Der Unfall mit 229 Todesopfern war ein Rätsel, ein Trauma für die gesamte Schweiz und die Luftfahrtbranche schlechthin. Galt die Swissair doch als eine der rennomiertesten Fluglinien der Welt, ihre Piloten als hervorragend und weit über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinaus qualifiziert. Mit Hochdruck wurde daran gearbeitet, den Crash aufzuklären. Denn alles, was man unmittelbar nach dem Absturz aufgrund des aufgezeichneten Funkverkehrs zwischen der Unglücksmaschine und den Fluglotsen wusste, war, dass es eine Rauchentwicklung im Cockpit der MD-11 mit dem Kennzeichen HB-IWF und dem Taufnamen "Vaud" gegeben hatte und die Piloten deshalb ihren Flug von New York nach Genf außerplanmäßig in Halifax unterbrechen wollten. Aber dort sollte SR111 niemals ankommen. Die genaue Unfallursache lag lange Zeit völlig im Dunkeln und sollte erst nach mehr als 4 Jahren abschließend geklärt werden. Anlässlich des 15. Jahrestages der Katastrophe rekonstruiert Austrian Wings anhand von offiziellen Dokumenten den letzten Flug der HB-IWF minutiös, zeigt die Umstände auf, die zum Absturz führten, und beleuchtet, wie dieser Unfall die Flugsicherheit nachhaltig erhöht und somit dem Tod der 229 Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord zumindest einen Sinn gegeben hat.

Dienstag, 1. September 1998: Swissair-Kapitän Urs Zimmermann, von Freunden "Zimi" genannt, sein Kollege Stephan Löw ("Leu") und 7 Flugbegleiter fliegen auf Kurs SR 920 als so genannte "Deadhead-Crew" von Zürich nach Genf. Dort treffen sie auf 5 weitere Flugbegleiter, mit denen sie gemeinsam als aktive Besatzung auf Flug SR110 nach New York fliegen werden.

Flugkapitän Urs Zimmermann - Foto: Archiv (Swissair)
Flugkapitän Urs Zimmermann - Foto: Archiv (Swissair)
Erster Offizier Stephan Löw - Foto: Archiv (Swissair)
Erster Offizier Stephan Löw - Foto: Archiv (Swissair)

Die MD-11 (hierbei handelt es sich nicht um die spätere Unglücksmaschine) startet um 10:18 Uhr UTC in Genf und erreicht New York um 18:35 Uhr. Nach Abschluss aller dienstlichen Formalitäten erfolgt der Transfer der gesamten Besatzung in das Hotel Marriott im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Vermutlich gehen die Crewmitglieder hier noch gemeinsam etwas Essen und lassen den Arbeitstag entspannt an der Hotelbar ausklingen. Der kommende Tag steht bis zum Rückflug am Abend zu ihrer freien Verfügung in New York. Es ist anzunehmen, dass sie die Zeit für einen Stadtbummel, ausgedehnte Shoppingtouren oder ähnliches nutzen, wie es Flugzeugbesatzungen auf ihren Stopovers für gewöhnlich eben tun.

Die HB-IWF, aufgenommen im Juli 1998 auf dem Flughafen Zürich - Foto: Aero Icarus / Wiki Commons
Die HB-IWF, aufgenommen im Juli 1998 auf dem Flughafen Zürich - Foto: Aero Icarus / Wiki Commons

Mittwoch, 2. September 1998: Zimmermann und Löw erhalten noch im Hotel Informationen für den bevorstehenden Flug, zusammengestellt vom Swissair Flight Operations Center, ausgehändigt. Um 21:50 Uhr UTC (17:50 Lokalzeit) checkt die Besatzung im Hotel aus und wird zum Flughafen transferiert, wo sie gegen 22:50 Uhr UTC (18:50 Lokalzeit) eintrifft. Während sich die 12 Flugbegleiter nach Passieren des Sicherheitschecks direkt zum Flugzeug begeben, erhalten Kapitän Zimmermann und Erster Offizier Löw beim Flight Operations Center der Swissair die letzten Informationen für den Flug SR 111 nach Genf. Der planmäßige Abflug ist 23:50 Uhr UTC (19:50 Uhr Lokalzeit), das eingesetzte Flugzeug ist die MD-11 mit der Registrierung HB-IWF (msn 48448) und dem Taufnahmen "Vaud". Der 1991 gebaute dreistrahlige Langstreckenjet hat zu diesem Zeitpunkt 36.051 Flugstunden und 6.560 Umläufe (so genannte "Cycles") absolviert. Das Flugzeug verfügt über insgesamt 241 Sitzplätze, 12 in der First, 39 in der Business und 180 in der Economy Class. Den Passagieren der Ersten und der Business Klasse steht ein erst vor rund einem Jahr nachträglich eingebautes persönliches Inflight Entertainment System (IFEN) zur Verfügung – heute Standard, in den 1990er Jahren noch ein Novum. Allerdings verursachte dieses neuartige System wiederholt Probleme, da es zu Überhitzungen neigte.

Das Bordunterhaltungssystem IFEN war in der First- und der Business Class der MD-11 eingebaut - Foto: Swissair
Das Bordunterhaltungssystem IFEN war in der First- und der Business Class der MD-11 eingebaut - Foto: Archiv Austrian Wings / Swissair

Crew mit langjähriger Erfahrung

Nach dem finalen Briefing begeben sich die beiden Piloten ebenfalls zum Flugzeug, wo die 12 Flugbegleiter bereits die Kabine und das angelieferte Catering überprüft haben. An diesem Tag hat eine besonders routinierte und erfahrene Besatzung Dienst. Kapitän Urs Zimmermann, ein ehemaliger Militärpilot ist 49 Jahre alt und verfügt über eine Gesamtflugerfahrung von 10.800 Stunden. Davon ist der verheiratete Vater dreier Kinder im Alter von 11, 13 und 15 Jahren, 900 Stunden auf der MD-11 geflogen, zuvor war er auf den Mustern DC-8/DC-9/MD-80 und Airbus A320 tätig. Darüber hinaus ist er Ausbilder bei Swissair. Seine Frau Prisca flog früher selbst für die Swissair - als Flugbegleiterin. Sein 36-jähriger Kollege Stephan Löw ist ebenfalls Fluglehrer und gleichfalls ehemaliger Militärpilot, der außerdem noch die F-5E Tiger bei der Miliz fliegt. Er kann auf eine Gesamtflugerfahrung von 4.800 Stunden verweisen, davon 230 auf der MD-11. Bevor er auf den Langstreckenjet umschulte, flog er DC-9/MD-80 und Airbus A320. Verheiratet mit seiner Frau Sonja, ist auch er stolzer Vater dreier Kinder. Freunde sagen, wenn es den Terminus "Familienmensch" noch nicht gegeben hätte, man hätte ihn extra für "Leu" erfinden müssen. Trotz ihrer langen Dienstzeit hatten beide Piloten nach den vorliegenden Unterlagen abseits ihrer halbjährlichen Simulatorchecks noch keinen realen Notfall im Cockpit zu bewältigen. Ein deutliches Indiz für die hohe Qualität der Wartung bei Swissair.

Die Unglücksmaschine HB-IWF "Vaud", aufgenommen vier Monate vor dem Absturz im neuen Farbenkleid - Foto: Paul Bannwarth
Die Unglücksmaschine HB-IWF "Vaud", aufgenommen vier Monate vor dem Absturz im neuen Farbenkleid - Foto: Paul Bannwarth

Die Kabinenbesatzung steht unter der Leitung von Rene Oberhansli, der als Purser, oder, wie es bei Swissair (und heute noch bei der Swiss) heißt, Maitre de Cabine, fungiert. Ihm unterstellt sind Irene Betrisey, Raphael Birkle, Anne Castioni, Colette Furter, Seraina Pazeller, Jeannine Pompili, Peter Schwab, Florence Zuber, Brigit Wiprachtiger, Regula Reutemann und Patricia Eberhart, die eigentlich für Delta Airlines arbeitet, jedoch außerdem auf Swissair Flügen die im Codeshare mit Delta durchgeführt werden, Dienst versieht. Für die 24-jährige Regula Reutemann ist dieser Einsatz ihre erste Rotation überhaupt seit Abschluss der Ausbildung als Flugbegleiterin. Sie ist gewissermaßen das "Küken" der Besatzung.

Die Kabinenbesatzung von SR 111 - Fotos: Archiv
Die Kabinenbesatzung von SR 111 - Fotos: Archiv

Das Gatepersonal bespricht sich noch kurz mit der Crew an Bord der "Vaud", dann boarden insgesamt 215 Passagiere (darunter 2 Kleinkinder unter 2 Jahren) die MD-11, womit die Maschine gut ausgelastet ist.

MD-11 HB-IWF der Swissair - Foto: Werner Fischdick
MD-11 HB-IWF der Swissair in der alten Lackierung - Foto: Werner Fischdick

In der First und der Business Class erhalten die Gäste nun einen Aperitif, aus den Bordlautsprechern klingt sanfte Musik. Noch etwa 40 Minuten bis zum Start. Zusammen mit den beiden Piloten und den 12 Flugbegleitern befinden sich 229 Menschen an Bord der "Vaud", darunter 136 mit US-amerikanischer Staatsbürgerschaft. In den Unterflurfrachträumen der MD-11 sind 15,5 Tonnen Fracht verstaut, in den Tanks schwappen etwas mehr als 63 Tonnen Kerosin. Unter den im Frachtraum verladenen Stücken befinden sich auch sieben Kilogramm Uhren und Schmuck, ein Kilogramm Diamanten sowie das Gemälde "Der Maler" des berühmten Künstlers Pablo Picasso.

MD-11 der Swissair am Gate, Symbolbild - Foto: Urs Hess
MD-11 der Swissair am nächtlichen Gate, Symbolbild - Foto: Urs Hess

Da sowohl New York als auch Genf UNO-Standorte sind, wird Flug SR 111 häufig von Diplomaten genutzt und trägt deshalb den Spitznamen "UNO-Shuttle". Die Reisenden an Bord des heutigen Fluges sind eine bunte Melange von Menschen aus Afghanistan, Kanada, Marokko, China, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Indien, dem Iran, den USA, Israel, Italien, Mexiko, Russland, Saudi Arabien, dem ehemaligen Jugoslawien und der Schweiz. Natürlich befinden sich unter ihnen auch diesmal wieder mehrere Mitarbeiter der Vereinten Nationen.

Schließlich haben alle Passagiere ihre Plätze eingenommen, das Handgepäck verstaut und die Sitzgurte geschlossen. Noch einmal gehen die Flugbegleiter durch die Gänge und kontrollieren, ob alles zum Start bereit ist. Die Türen werden geschlossen und Flug SR 111 erhält die Freigabe zum Anlassen der Triebwerke, wenig später folgt die Taxi Clearance. Um 23:53 Uhr UTC (19:53 Uhr Lokalzeit) verlässt die Maschine ihre Parkposition auf dem JFK Airport und rollt zur Startbahn. Dann meldet einer der Flugbegleiter, wahrscheinlich der Maitre de Cabine, "Cabin secured" an das Cockpit. An Bord herrscht eine entspannte, routinierte Atmosphäre.

Blick in die Economy Class Kabine einer MD-11 der Swissair, Symbolbild - Foto: Philippe Gindrat
Blick in die Economy Class Kabine einer MD-11 der Swissair, Symbolbild - Foto: Philippe Gindrat

Erster Offizier Stephan Löw wird den Leg nach Genf als Pilot Flying (PF) durchführen, der Kapitän unterstützt ihn als Pilot Non Flying (PNF). Das bedeutet, dass Löw für die eigentliche Steuerung der Maschine verantwortlich ist und Zimmermann die Navigation sowie den Funkverkehr übernimmt.

Gemeinsam schieben die Männer die drei Schubhebel nach vorne, die MD-11 beschleunigt auf Startgeschwindigkeit und um 00:18 Uhr UTC (20:18 Lokalzeit) rotiert der imposante Dreistrahler, erhebt sich majestätisch in den Nachthimmel und nimmt Kurs auf den offenen Atlantik. Zimmermann und Löw rechnen mit einem Routineflug und einer Landung in Genf um 09:30 Uhr. Am nächsten Tag will Zimmermann gemeinsam mit Frau, Kindern und Freunden seinen 50. Geburtstag feiern. Der Tisch im Restaurant ist bereits dafür reserviert.

Etwa 40 Minuten nach dem Start nimmt Kapitän Zimmermann über Funk mit der Flugverkehrskontrollstelle in Moncton Kontakt auf. Die "Vaud" hat ihre Reiseflughöhe von 33.000 Fuß erreicht. In der hell erleuchteten Kabine von Flug SR 111 beginnen die Flugbegleiter in allen drei Klassen mit dem Bordservice, für dessen Opulenz Swissair besonders in der First Class bekannt ist. Nichts deutet zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass Swissair 111 sein Ziel niemals erreichen wird.

Piloten bei der nächtlichen Arbeit im Cockpit einer MD11, Symbolbild - Foto: Felix Gottwald
Piloten bei der nächtlichen Arbeit im Cockpit einer MD11, Symbolbild - Foto: Felix Gottwald

Verdächtiger Geruch im Cockpit

Um 01:10:38 Uhr UTC – der Kommandant nimmt gerade sein Abendessen zu sich - bemerkt Stephan Löw einen ungewöhnlichen Geruch im Cockpit. Kapitän Zimmermann macht 20 Sekunden danach eine Bemerkung, aus der hervorgeht, dass er Rauch sieht. Löw übergibt die Steuerung der Maschine an Zimmermann und verlässt nach kurzer Rücksprache mit dem Kapitän seinen Sitzplatz um die Stelle, an welcher der Rauch sichtbar ist, zu untersuchen. Er kann jedoch nichts entdecken, die Schwaden haben sich offenbar wieder verzogen.

Oberhalb der Cockpitdenke an der Trennwand zur Passagierkabine entwickelte sich von der Besatzung unbemerkt ein Feuer; durch Öffnungen zwischen den Panelen drang Rauch ins Cockpit ein - Foto: Screenshot YouTube
Oberhalb der Cockpitdecke an der Trennwand zur Passagierkabine entwickelte sich von der Besatzung unbemerkt ein Feuer; durch Öffnungen zwischen den Panelen drang der Rauch ins Cockpit ein - Foto: Screenshot YouTube

Der Kapitän ruft daraufhin eine Flugbegleiterin aus der Ersten Klasse ins Cockpit und fragt sie, ob sie ebenfalls Rauch riechen könne, was von ihr bejaht wird. In der Passagierkabine sei jedoch nichts dergleichen zu sehen oder zu riechen. Keiner der Brandmelder in Kabine, Frachtraum oder den Triebwerken hat angeschlagen, es gibt auch sonst keinerlei Indizien, welche die Crew vermuten lassen könnten, ein Feuer an Bord zu haben.

Um 01:12:32 bemerkt der Kapitän deshalb: "Es isch d Aircondition?", was vom Ersten Offizier mit "Ja" quittiert wird. Beide Piloten sind davon überzeugt, dass die temporär sichtbare Rauchentwicklung ihren Ursprung im System der Klimaanlage gehabt haben muss und machen sich folglich keine Sorgen. Die Flugbegleiterin verlässt das Cockpit wieder und schließt die Türe hinter sich. Zimmermann und Löw wenden sich Routineaufgaben beziehungsweise dem Abendessen zu.

Doch nur 45 Sekunden später kehrt der Rauch zurück, woraufhin die beiden Piloten eine außerplanmäßige Landung in Erwägung ziehen und geeignete Flughäfen dafür evaluieren, denn nicht jeder Airport ist für die über 200 Tonnen schwere MD-11 als Ausweichflughafen geeignet.

"Das sieht gar nicht gut aus hier oben", bemerkt bemerkt Kapitän Zimmermann kurze Zeit später auf Schweizerdeutsch. Die Piloten haben sich nun dafür entschieden, in das rund 300 nautische Meilen hinter ihnen liegende Boston auszuweichen um das Problem untersuchen und beheben zu lassen.

Um 01:14:05 kontaktiert der Kapitän deshalb über Funk das Area Control Center Moncton, sein Funkspruch wird jedoch vom Anruf einer anderen Maschine überlagert. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die "Vaud" rund 66 nautische Meilen südwestlich von Halifax. Eine Landung innerhalb der nächsten 30 Minuten scheint problemlos möglich. In der Kabine geht alles seinen gewohnten Gang, weder Passagiere noch Flugbegleiter bekommen von den ersten Problemen im Cockpit etwas mit. Der Fluglotse in Moncton reagiert auf SR 111 und fordert die Besatzung auf, ihren Funkspruch zu wiederholen: "Other aircraft calling, say again."

"We have smoke in the cockpit"

Um 01:14:15 erklärt Zimmermann gegenüber der Flugverkehrskontrolle mit ruhiger Stimme eine Dringlichkeitslage: "Swissair One Eleven Heavy is declaring Pan Pan Pan, we have smoke in the cockpit. We request immediate return to a convenient place, I guess Boston."

"Swissair 111 roger, turn right, proceed … uh, you say to Boston you want to go?", fragt der diensthabende Controller, wohlwissend, dass Halifax für SR 111 deutlich schneller erreichbar ist.

"I guess Boston ... we need first the weather so, uh, we start a right turn here. Swissair one one one Heavy“, antwortet Zimmermann, woraufhin der Lotse die Maschine zum Sinkflug von 33.000 auf zunächst 31.000 Fuß frei gibt.

Währenddessen er seine Sauerstoffmaske anlegt, bestätigt der Kapitän diese Freigabe. Parallel dazu leitet Löw den Sinkflug ein. Die beiden Männer sehen sich zwar mit einer außergewöhnlichen Situation konfrontiert, sind jedoch zuversichtlich, sie beherrschen zu können.

Cockpit-Übersicht einer MD-11 der Swissair - Foto/Grafik: TSB
Cockpit-Übersicht einer MD-11 der Swissair - Foto/Grafik: TSB

Während die Maschine ihre bisherige Flughöhe verlässt, beginnt der Kapitän damit, die entsprechende Checkliste für eine mutmaßlich von der Klimaanlage verursachte Rauchentwicklung im Cockpit abzuarbeiten.

Weniger als eine Minute später kontaktiert der Controller SR 111 erneut und fragt nach, ob die Besatzung Halifax Boston für die Ausweichlandung vorziehen würde.

"Standby", kommt es aus dem Cockpit der "Vaud" zurück, wo sich Zimmermann und Löw kurz beratschlagen.

Sicherheitslandung in Halifax

"Affirmative for Swissair one eleven heavy. We prefer Halifax from our position", meldet Kapitän Zimmermann um 01:15:38 an die Bodenkontrollstelle.

"Swissair one eleven roger, proceed direct to Halifax, descend now to flight level two niner zero", lautet die umgehende Anweisung des Fluglotsen, die von der Crew bestätigt wird.

Die Besatzung einer Maschine der British Airways, die den Funkverkehr mitgehört hat, übermittelt die aktuellen Wetterdaten an SR 111. Danach gibt Moncton den Swissair-Flug zum weiteren Sinkflug auf 10.000 Fuß frei und erbittet von den Piloten sämtliche Informationen betreffend Passagiere und Treibstoff an Bord, um dies an die Einsatzkräfte vor Ort weiterleiten zu können, ein Routinevorgang in solchen Fällen.

Gegenwärtig ist die Arbeitsbelastung im Cockpit von SR 111 allerdings besonders hoch, sodass die Crew auf diese Aufforderung vorerst lediglich mit einem "Uh, roger, standby for this" reagiert.

Erster Offizier contra Kapitän?

Zu dieser Zeit beschleicht den Ersten Offizier Löw vermutlich bereits eine böse Vorahnung. Er schlägt offenbar einen schnellen Notabstieg, ein frühes Ablassen von überschüssigem Treibstoff und einen Direktanflug auf Halifax vor, um keine Zeit zu verlieren. Doch Kapitän Zimmermann lehnt diese Vorgehensweise ab und besteht auf einen weitgehend regulären Anflug um kontinuierlich alle Punkte auf den Checklisten prüfen zu können. So jedenfalls wird es das "Wall Street Journal" 1999 unter Berufung auf das bis heute von den kanadischen Behörden unter Verschluss gehaltene Transkript des Cockpit Voice Recorders berichten.

Gegenüber Austrian Wings erklärte Senior Investigator David McNair dagegen, dass es "keine Anzeichen für eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Ersten Offizier und dem Kapitän" gegeben habe. Und Prisca Zimmermann, die Witwe des Kapitäns und einer der wenigen Menschen, welche die Aufnahmen aus dem Cockpit von Swissair 111 anhören konnten, gab auf Anfrage unserer Redaktion überzeugend und authentisch an, dass ihr ebenfalls nichts von einer diesbezüglichen Diskussion zwischen ihrem Mann und Stephan Löw bekannt sei. Sie habe jetzt zum ersten Mal davon erfahren.

Um 01:17:19 Uhr passiert die "Vaud" 29.700 Fuß. Die Sinkrate beträgt 4.000 Fuß pro Minute, die Luftbremsen (in der Fachsprache "Spoiler" genannt) sind voll ausgefahren. Kapitän Zimmermann weist seinen Kollegen an, nicht zu schnell zu sinken und die Geschwindigkeit im Auge zu behalten, die nun bei 310 Knoten IAS liegt.

Etwa 30 Sekunden später informiert der Kommandant den Maître de Cabine, Rene Oberhansli, über das Rauchproblem im Cockpit und darüber, dass man deswegen in 20 bis 30 Minuten in Halifax landen werde. Das Service solle eingestellt und die Kabine entsprechend vorbereitet werden. Ein Routinevorgang, denn derartige Sicherheitslandungen sind zwar für Passagiere wegen des Zeitverlustes durchaus ärgerlich, gehören für Besatzungen von Flugzeugen aber zum Berufsalltag.

Der Fluglotse übergibt SR 111 jetzt an einen Kollegen auf der Frequenz 119,2 Mhz. Es ist 01:18:19 Uhr. Nach dem Frequenzwechsel wird die Maschine für eine Flughöhe von 3.000 Fuß freigegeben, was von den Piloten jedoch abgelehnt wird, denn die Flugbegleiter hätten die Vorbereitungen für die Landung noch nicht abgeschlossen: "Ah, we would prefer at the time around, uh, eight thousand feet, two nine eight zero, until the cabin is ready for the landing", funkt einer der Flugzeugführer zurück.

Pilot mit Checkliste im MD-11 Cockpit, Symbolbild - Foto: Screenshot YouTube
Pilot mit Checkliste im MD-11 Cockpit, Symbolbild - Foto: Screenshot YouTube

Der Fluglotse akzeptiert dies und räumt den Piloten einen gewissen Spielraum ein, zumal um diese Uhrzeit in den unteren Flugräumen ohnedies kaum Verkehr herrscht: "Swissair one eleven, uh, you can descend to three, level off at an intermediate altitude if you wish. Just advise."

Mit ruhiger Stimme bestätigt die Besatzung von SR 111 die Anweisung des Lotsen: "Roger. At the time we descend to eight thousand feet. We are anytime clear to three thousand. I keep you advised."

Trügerische Ruhe

Alle Systeme und Instrumente im Cockpit arbeiten momentan noch einwandfrei, auch in der Kabine sind nach wie vor keinerlei Anzeichen von Rauch, Feuer oder Hitze zu erkennen. Die Triebwerke surren monoton, ruhig und stabil gleitet die MD-11 durch die Nacht. Die Flugbegleiter haben die Passagiere über den außerplanmäßigen Zwischenstopp informiert und verstauen Essen, Getränke sowie Trolleys als Vorbereitung für die Landung in Halifax, die in Kürze erfolgen soll. Im Cockpit versuchen die Piloten währenddessen weiter mit Hilfe verschiedener Checklisten die Quelle des Rauches zu isolieren und das Problem anschließend durch Deaktivieren des betreffenden Systems zu beheben. Doch bislang waren alle eingeleiteten Maßnahmen erfolglos.

Um seinen Sitzplatz in dieser Situation hoher Arbeitsbelastung nicht verlassen zu müssen, ruft der Kapitän einen Flugbegleiter ins Cockpit und weist ihn an, die Anflugkarten für Halifax aus seinem Flightbag herauszusuchen und sie ihm zu reichen.

Gegen 01:19 Uhr bietet der Fluglotse SR 111 an, die Maschine mittels Vektoren zur Piste 06 zu lotsen. Um 01:19:39 teilt er den Piloten mit, dass sie nun nur noch 30 Meilen vom Flughafen entfernt sind.

"Uh, we need more than thirty miles, please, ah, say me again the frequency of the back beam", teilt Erster Offizier Löw der Bodenstelle mit. Diese weist SR 111 an, eine Linkskurve auf Steuerkurs 360 zu fliegen um etwas Höhe zu verlieren: "It's a back course approach."

"We must dump some fuel"

Die Piloten verständigen sich jetzt darüber, den Anflug doch zu beschleunigen, sollte der Rauch dichter werden, und kommen außerdem überein, noch Treibstoff abzulassen um das Gewicht der Maschine für die Landung zu reduzieren, obwohl grundsätzlich auch eine so genannte "Overweight"-Landung möglich wäre. Es ist jetzt 01:20 Uhr UTC. Chefsteward Rene Oberhansli macht über die Bordsprechanlage eine Ansage an die Passagiere, dass der Flug in 20 bis 25 Minuten in Halifax landen wird.

Eine Minute später fragt der Fluglotse noch einmal nach der Treibstoffmenge und den an Bord befindlichen Personen: "Swissair one eleven, when you have time could I have the number of souls on board and your fuel onboard please for emergency services."

"Roger, at the time, uh, fuel on board is, uh, two three zero tonnes. We must, uh, dump some fuel. May we do that in this area during descent?", fragt Erster Offizier Löw den Controller in Moncton. Anmerkung der Redaktion: 230 Tonnen war das Gesamtgewicht der Maschine zu diesem Zeitpunkt.

Pilot einer MD-11 betätigt die Systeme zum Ablassen von Treibstoff, Symbolbild - Foto: Screenshot YouTube
Pilot einer MD-11 betätigt die Systeme zum Ablassen von Treibstoff, Symbolbild - Foto: Screenshot YouTube

Dieser ist überrascht, dass SR 111 noch Treibstoff ablassen muss: "Uh, okay, I am going to take you... Are you able to take a turn back to the south or do you want to stay closer to the airport?"

"Standby short, standby short", antwortet Löw und fragt seinen Kapitän, ob man nicht auf das Fuel dumping verzichten und lieber sofort landen sollte, doch Zimmermann bleibt abermals bei dem von ihm bevorzugten Vorhaben, da es für ihn offenbar keinerlei Anzeichen gibt, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte.

"Okay, we are able for a left or right turn towards the south to dump", teilt Löw gegen 01:21:59 Uhr Moncton Center mit.

"Swissair one-eleven, uh, roger, uh, turn to the, ah, left heading of, ah, two zero zero degrees and, ah, advise me when you are ready to dump. It will be about ten miles before you are off the coast. You are still within about twenty five miles of the airport."

Löw bestätigt dies und erklärt, SR 111 werde zunächst nur bis auf 10.000 Fuß sinken:

"Roger, we are turning left and, ah, in that case we're descending at the time only to ten thousand feet to dump the fuel."

"Okay, maintain one zero thousand. I'll advise you when you are over the water. It will be very shortly", sagt der Fluglotse.

Löw scheint besorgt darüber zu sein, dass sich der Jet während dieses Manövers zu weit vom Flughafen entfernen könnte und teilt seinem Kapitän mit, dass er – dessen Einverständnis vorausgesetzt – die Geschwindigkeit reduzieren werde. Doch Zimmermann reagiert darauf genervt und gibt seinem Ersten Offizier zu verstehen, dass er mit der Checkliste beschäftigt sei und "nicht so oft unterbrochen" werden wolle, schreibt das "Wall Street Journal" 1999 in einem Artikel unter Berufung auf eine Abschrift der Aufzeichnung des Cockpit Voice Recorders, deren Authentizität von den Behörden weder bestätigt noch dementiert wurde.

Der Erste Offizier fährt bei Passieren von 12.550 Fuß die Luftbremsen ein und reduziert die Sinkgeschwindigkeit – die MD-11 geht schließlich in etwa 10.200 Fuß in den Horizontalflug über.

"Du bisch i dr emergency checklist für air conditioning smoke?", fragt Löw den Kapitän um 01:22:36. Weil er dabei versehentlich die Sendetaste gedrückt hält, wird dieser Satz an den Fluglotsen übermittelt, der das Schweizerdeutsch natürlich nicht versteht und nachfragt: "Uh, Swissair one eleven say again please."

"Ah, sorry, it was not for you Swissair one eleven was asking internally. It was my fault, sorry about", antwortet Löw mit ruhiger Stimme. Alles scheint unter Kontrolle, Besatzung und Passagiere sind überzeugt davon, in wenigen Minuten sicher zu landen. Zimmermann sagt zu Löw, dass er gerade mit der erwähnten Checkliste beschäftigt sei. Löw wählt über den Autopiloten eine Geschwindigkeit von 249 Knoten, während Zimmermann im Flight Management System Informationen über den Flughafen Halifax abruft.

Die zum Zeitpunkt des Absturzes für die MD-11 gültige "Air Conditioning Smoke" Checkliste der Swissair - Quelle: TSB
Die zum Zeitpunkt des Absturzes für die MD-11 gültige "Air Conditioning Smoke" Checkliste der Swissair - Quelle: TSB

"Swissair one-eleven continue left heading one-eight zero you'll be, ah, off the coast in about, ah, fifteen miles", weist Moncton die Besatzung der "Vaud" an. Es ist 01:23:33 Uhr.

Rund 12 Sekunden später schaltet Zimmermann gemäß der von ihm jetzt konsultierten Checkliste "Smoke/Fumes of unknown origin" die Stromversorgung für die Kabine, den so genannten "Cabin Bus" aus, Löw bestätigt das Abschalten gemäß den Vorschriften.

Zum Zeitpunkt des Absturzes für die MD-11 gültige "Smoke / Fumes of unknown origin" Checkliste der Swissair; der erste Punkt sieht das Abschalten des "Cabin Bus" und damit die Unterbrechung der Stromzufuhr zur Passagierkabine vor - Quelle: TSB
Zum Zeitpunkt des Absturzes für die MD-11 gültige "Smoke / Fumes of unknown origin" Checkliste der Swissair; der erste Punkt sieht das Abschalten des "Cabin Bus" und damit die Unterbrechung der Stromzufuhr zur Passagierkabine vor - Quelle: TSB

Sollten auch die weiteren Schritte das Rauchproblem nicht beseitigen, dann erst empfiehlt die Checkliste die Landung auf dem nächstgelegenen Flughafen.

Der Fluglotse am Boden lässt Swissair 111 jede nur erdenkliche Unterstützung zukommen und informiert die Besatzung darüber, dass er sie in einem Radius von 40 Meilen rund um den Flughafen behält, sodass sie im Falle einer Verschlechterung der Situation rasch landen kann. Löw erklärt, dass er mit dieser Vorgehensweise einverstanden sei: "Ok, that’s fine for us. Please tell me when we can start, ah, to dump the fuel."

Doch nur 8 Sekunden nach diesem Funkspruch, werden die Probleme im Cockpit größer: Autopilot 2 schaltet sich unvermittelt aus, und damit einhergehend erklingt ein durchringender Warnton, der bis zum Ende der Aufzeichnung nicht mehr verstummen wird. Zimmermann stellt das Versagen des Autopiloten fest, Löw bestätigt den Erhalt dieser Information.

"We must fly manually"- noch 90 Sekunden bis zum Totalausfall im Cockpit

01:24:28 Uhr UTC, weniger als 1 Minute nach dem Abschalten des Cabin Bus informiert der Erste Offizier den Fluglotsen in Moncton über die veränderte Situation: "Ah, Swissair one eleven. At the time we must fly, ah, manually. Are we cleared to fly between, ah, ten thou...-, eleven thousand and niner thousand feet?“ Im Hintergrund ist deutlich die nervenaufreibende Warnsirene des Autopiloten zu hören.

"Swissair one eleven you can block between, ah, five thousand and twelve thousand if you wish", genehmigt die Bodenkontrollstelle.

"We are declaring emergency now!"

Jetzt überschlagen sich die Ereignisse im Cockpit. Um 01:24:45 meldet Zimmermann eine Luftnotlage: "Swissair one eleven heavy is declaring emergency", während Löw nur eine Sekunde später ebenfalls einen Funkspruch absetzt und gleichfalls einen Notfall deklariert: "Roger we are between, uh, twelve and five thousand feet we are declaring emergency now at, ah, time, ah, zero one two four."

Vermutlich erkennen die Piloten in diesem Moment, dass die Ursache des Rauches doch kein verhältnismäßig leicht zu kontrollierendes Problem mit der Klimaanlage ist, sondern eine wesentlich ernstere Ursache hat. Vier Sekunden später meldet ein Flugbegleiter an das Cockpit, dass die Beleuchtung ausgefallen sei und man die Kabine nun mithilfe von Taschenlampen auf die Landung vorbereite. Der Stromausfall in der Kabine ist auf das Betätigen des Cabin-Bus Schalters wenige Sekunden zuvor zurückzuführen. Die ausgefallene Beleuchtung ist das einzige Anzeichen für die Passagiere, dass es an Bord technische Probleme gibt.

Offenes Feuer im Cockpit: "We must land immediate!"

Nur 8 Sekunden nachdem Zimmermann den Notfall erklärt hat, spitzt sich die Lage für die Piloten abermals völlig überraschend zu und erreicht eine Dimension, in welcher der Kapitän sofort Treibstoff ablassen und den Endanflug einleiten will: "Eleven heavy we starting dump now, we have to land immediate“. Im Hintergrund ist noch immer der markdurchdringende Alarmton zu hören, der sich nicht mehr abstellen lässt.

Doch der Lotse am Boden empfängt diese Meldung nicht. Stattdessen reagiert er ergänzend auf den vorherigen Funkspruch, die Erklärung der Luftnotlage und teilt SR 111 mit, dass das Ablassen des Treibstoffs in Kürze beginnen könne: "Swissair one eleven just a couple of miles I'll be right with you." "Roger" antwortet Löw.

Die Bedingungen im Cockpit der "Vaud" müssen nun entsetzlich sein. Puls und Atemfrequenz beider Piloten steigen vermutlich stressbedingt an. Ein Teil der Deckenverkleidung bricht weg, die zwei Männer sehen sich mit einem offenem Feuer in ihrem Rücken konfrontiert. Die Raumtemperatur erreicht rasend schnell kaum zu ertragende Werte. Möglicherweise erleiden die beiden Flugzeugführer allein durch die enorme Hitze bereits Verbrennungen. Mit Sicherheit wird man das nie wissen. Heiße toxische Gase strömen in das Flugdeck, während nacheinander innerhalb von nur 90 Sekunden alle sechs Bildschirme und zahlreiche wichtige Systeme wie der Yaw Damper ihren Dienst versagen. Geschmolzenes Aluminium tropft von der Decke auf den Fußboden und den rechten Jumpseat. Verzweifelt meldet Löw einmal mehr den Notfall: "And we are declaring emergency now Swissair one eleven". "Copied that", bestätigt der Lotse den Erhalt der Nachricht. Es wird der letzte Funkspruch sein, den die Bodenkontrolle von Swissair 111 empfängt und ist gleichzeitig ein Zeichen für die höchste Professionalität, mit der die Piloten selbst jetzt noch versuchen, die Lage unter Kontrolle zu bringen und den Jet sicher zu landen.

Auf verlorenem Posten

Was in den nun folgenden sechs Minuten exakt geschieht, lässt sich nicht mehr mit vollständiger Gewissheit sagen, da sowohl der Flugdatenschreiber als auch der Cockpit Voice Recorder sukzessive ihren Dienst versagen. Das Fenster auf der Seite des Kapitäns wird entriegelt, jedoch nicht geöffnet. Wahrscheinlich wollten die Piloten dadurch für einen Abzug des immer dichter werdenden Qualms aus dem Cockpit sorgen - ein Standardverfahren, das aber nicht immer erfolgreich ist. Denn manchmal lassen sich die Fenster zwar entriegeln, aber nicht öffnen, weil der Kabinendruck noch zu hoch ist.

Völlig verrauchtes Simulatorcockpit, Symbolbild - Foto: PA / Austrian Wings Media Crew
Völlig verrauchtes Simulatorcockpit, Symbolbild - Foto: PA / Austrian Wings Media Crew

Als gesichert gilt jedenfalls, dass Kapitän Zimmermann den Gurt öffnet und seinen Sitz zurückfährt. Vermutlich versucht er, die Flammen zu bekämpfen und benutzt dabei jedes nur erdenkliche Hilfsmittel. Später werden die Ermittler eine Checkliste finden, die teilweise geschmolzen ist, was darauf schließen lässt, dass der Kommandant versucht hat, damit das Feuer einzudämmen. Ob der an der Cockpitrückwand installierte Feuerlöscher benutzt wurde, wird sich in diesem Fall im Nachhinein nicht mehr eruieren lassen, wenngleich Ken Adams, ein ehemaliger MD-11 Pilot, der Ansicht ist, dass Zimmermann "vermutlich" (auch) einen Feuerlöscher eingesetzt hat.

Feuerlöscher im Cockpit eines Verkehrsflugzeuges - Foto: PA / Austrian Wings Media Crew

Nachdem alle sechs Bildschirme ausgefallen sind und nur noch die Standby Instrumente zur Verfügung stehen, gelingt es Löw für einen begrenzten Zeitraum, einige seiner Monitore wieder mit Strom zu versorgen. Für wie lange ist unbekannt.

Die Standby-Instrumente im Cockpit der Swissair MD-11 waren vor den Schubhebeln und damit alles andere als im direkten Blickfeld der Piloten angeordnet - Foto: Screenshot YouTube
Die Standby-Instrumente im Cockpit der Swissair MD-11 waren vor den Schubhebeln und damit alles andere als im direkten Blickfeld der Piloten angeordnet - Foto: Screenshot YouTube

"Ich fliege nur noch und mache sonst nichts mehr!", ruft Löw seinem Kommandanten um 01:25:16 zu. Die Sicht innerhalb des Flugdecks dürfte durch den Rauch erheblich eingeschränkt sein, eine Rußschicht legt sich über die wenigen verbliebenen Instrumente, die in Kürze ebenfalls nach und nach ihren Dienst versagen werden - genauso wie der Cockpit Voice Recorder und der Flugdatenschreiber, nachdem das Feuer die Stromleitungen zerstört hat.

Geborgener Feuerlöscher der "Vaud" - Foto: TSB
Geborgener Feuerlöscher der "Vaud" - Foto: Courtesy TSB of Canada

In der selben Sekunde gibt der Fluglotse SR 111 zum Ablassen des Treibstoffs frei: "Swissair one eleven you are cleared to, ah, commence your fuel dump on that track and advise me, ah, when the dump is complete."

Im Cockpit macht Kapitän Zimmermann gleichzeitig gegenüber seinem Ersten Offizier eine Bemerkung über etwas, das "bereits brennt".

Als der Controller nach fast einer halben Minute noch immer keine Antwort erhalten hat, beschleicht ihn eine böse Ahnung, er wiederholt die Freigabe: "Swissair one eleven check you're cleared to start the fuel dump", doch auch auf diesen Funkspruch erhält er keine Antwort mehr. Die Flammen haben bereits die Funkgeräte in Mitleidenschaft gezogen. Etwa 30 Sekunden später empfängt der Fluglotse am Boden unverständliche Sprachfetzen, die offenbar von SR 111 stammen. Auch die vom Transponder übermittelten Informationen verschwinden vom Radarschirm des Fluglotsen, da der Brand auch dieses System außer Betrieb gesetzt hat.

Der Crash

Um 01:30 Uhr führt Löw in einer Höhe von 1.800 Fuß noch eine Notabschaltung von Triebwerk Nummer 2 durch. Der Grund dafür ist unklar, vermutlich hat ein durch das Feuer ausgelöster Kurzschluss fälschlicherweise einen Triebwerksbrand angezeigt. Kapitän Zimmermann versucht zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich noch immer, die Flammen zu löschen - falls er nicht bereits bewusstlos zusammengebrochen ist. Denn im Cockpit der MD-11 gibt es zwar für die Besatzung so genannte "Smoke Hoods", es ist jedoch fraglich, ob Zimmermann im völlig verrauchten Cockpit noch daran gedacht hat, diese Notfallausrüstung benutzen, als er aufstand um die plötzlich ins Flugdeck eindringenden Flammen zu bekämpfen.

Doch sein Kollege Löw gibt nicht auf, obwohl die Lage für ihn mittlerweile völlig aussichtslos und der Absturz der MD-11 unvermeidlich ist. Der 36-jährige Pilot sitzt mit angelegter Sauerstoffmaske in einem brennenden Cockpit, in dem alle Instrumente und die Funkverbindung zum Fluglotsen ausgefallen sind. Über ihm nur der schwarze Himmel, unter ihm der dunkle Ozean. Mark Clitsome vom kanadischen Transportation Safety Board wird diese Bedingungen später mit einem "schwarzen Loch" vergleichen.

Im Hintergrund heult unablässig eine Warnsirene, Feuer, Rauch und Hitze nehmen weiter an Intensität zu. Das Flackern der Flammen ist die einzige Lichtquelle im Cockpit. Löws Haut muss schmerzen, seine Augen brennen, während Verzweiflung und Hilflosigkeit in ihm aufsteigen und ihn erkennen lassen, dass er trotz seiner hervorragenden Ausbildung beim Schweizer Militär und der Swissair sowie seinen tausenden Flugstunden Erfahrung die Katastrophe jetzt nicht mehr abwenden kann. Dennoch darf angenommen werden, dass Löw bis zuletzt versucht, den Funkkontakt zum Fluglotsen wieder herzustellen, damit ihm dieser Vektoren zur rettenden Piste geben kann - vergeblich. Ohne Instrumente und ohne jede visuelle Referenz um die Fluglage der MD-11 zu verifizieren, verliert First Officer Stephan Löw schließlich die Kontrolle über den 230 Tonnen schweren dreistrahligen Jet.

Wie viel die Passagiere in der Kabine von dem nahenden Ende mitbekommen, ist ungewiss. Möglicherweise hören die Insassen in den vorderen Reihen die Warnsirenen aus dem Cockpit, sicher ist das aber nicht. Nur ein Fluggast - er ist selbst Pilot - legt seine Schwimmweste an, der Maître de Cabine sitzt beim Aufprall, wie die übrigen Flugbegleiter allem Anschein nach ebenfalls, angeschnallt auf seinem Jumpseat und trägt keine Schwimmweste. Den Piloten gleich, haben auch die Passagiere keine visuelle Referenz nach außen. Feuer und Rauch sind den vorliegenden Erkenntnissen zufolge auch jetzt noch nicht in die Kabine eingedrungen, sodass zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass der Absturz Passagiere und Flugbegleiter völlig überraschend getroffen hat.

Um 01:31 hören und sehen Einwohner von Peggy's Cove einen tieffliegenden Jet, der um 01:31:18 Uhr mit einem Neigungswinkel von 20 Grad Nose down und einer Schräglage von 60 bis 120 Grad nach rechts rund 8 Kilometer südwestlich von Peggy's Cove auf dem Wasser aufschlägt. "Es klang wie ein ferner Donner", werden sich Ohrenzeugen später erinnern.

Durch die Aufprallenergie von 350g (Zum Vergleich: Kampfjetpiloten sind bei ihren Flügen etwa 6 bis 9g ausgesetzt, bei circa 7g verliert ein untrainierter Mensch das Bewusstsein und laut Guinness-Buch der Rekorde liegt die höchste gemessene g-Kraft, die je von einem Menschen überlebt wurde, bei 179,8g) werden die Maschine und ihre Insassen in Stücke gerissen. Alle 229 Menschen an Bord von SR 111 sind sofort tot.

Gedenkstätte für die Opfer des Absturzes von Swissair 111 in Peggy's Cove - Foto: Wiki Commons
Gedenkstätte für die Opfer des Absturzes von Swissair 111 in Peggy's Cove - Foto: Wiki Commons

Rettungsaktion läuft an

Wenige Minuten später werden bereits die ersten Einsatzkräfte alarmiert, die so rasch wie möglich mit der Suche beginnen.

Bergeschiffe an der Absturzstelle von Swissair 111 - Foto: US Navy / Mate 1st Class Todd P. Cichonowicz
Bergeschiffe an der Absturzstelle von Swissair 111 - Foto: US Navy / Mate 1st Class Todd P. Cichonowicz

Doch sie können nichts mehr tun. Im Morgengrauen offenbart sich den Helfern eine schreckliche Szenerie. Überall auf dem Meer treiben Trümme, persönliche Habseligkeiten der Insassen und Leichenteile. Die Retter werden nur einen einzigen vollständigen Körper bergen können.

Ein Flightbag eines Crewmitgliedes von SR 111 wird geborgen - Foto: Screenshot YouTube
Ein Flightbag eines Crewmitgliedes von SR 111 wird geborgen - Foto: Screenshot YouTube

Bei der Swissair selbst erfährt man rund eine Stunde nach dem Absturz der "Vaud" durch den Anruf einer Reporterin des "Toronto Star" von dem Unglück. Um 04:40 Uhr tritt ein Krisenstab zusammen und koordiniert die weiteren Schritte.

Auf der Anzeigetafel des Genfer Flughafens scheint Swissair 111 zunächst als "verspätet", kurz danach als "ausgefallen" auf.

Flug Swissair 111 schien zunächst als "verspätete" auf - Foto: Screenshot YouTube
Vermeintlich "verspätet": Swissair 111 - Foto: Screenshot YouTube

Die Abholer von Passagieren dieses Fluges werden von den übrigen wartenden Personen in der Ankunftshalle separiert und von speziell geschulten Swissair-Mitarbeitern betreut. In Zürich wird ebenfalls eine Notfallzentrale eingerichtet. Doch schon bald ist auch in der Schweiz klar, dass den Absturz niemand überlebt hat. Spezielle Notrufnummern für Angehörige werden in der Schweiz und den USA geschaltet, wo Codeshare-Partner Delta die Schweizer Fluglinie vertritt und unterstützt.

Abholer von auf SR 111 gebuchten Passagieren werden gebeten, die Fluglinie zu kontaktieren - Foto: Screenshot YouTube
Abholer von auf SR 111 gebuchten Passagieren werden gebeten, die Fluglinie zu kontaktieren - Foto: Screenshot YouTube

Nach und nach erfahren auch die übrigen nationalen und internationalen Medien von dem Unglück und berichten in Sondersendungen über den Absturz der Maschine. Das Thema füllt die Titelblätter sämtlicher Zeitungen.

"Die MD-11 war ganz normal in Neu York gestartet, vom Flughafen John F. Kennedy , befand sich etwa seit 1 Stunde und 40 Minuten in der Luft. Es ist davon auszugehen, dass sie damit praktisch Reiseflughöhe erreicht hatte, dass die Besatzung Rauchentwicklung im Cockpit feststellen musste, dass sie die Flugverkehrsleitstelle ersucht hat, eine Diversion zu machen. Zuerst nach Boston, dass sie dann, weil sich die Situation verändert hat, entschieden hat, den näher gelegenen Flughafen Halifax anzufliegen, und dass kurz vor dem Absturz eine Meldung abgesetzt wurde 'Pan, Pan, Pan'. Das ist eine Distress-Message. Und der Absturz erfolgte etwa 7 bis 10 Flugminuten vor dem Flughafen Halifax. 10 Minuten mehr und das Flugzeug wäre gelandet", erklärt ein sichtlich von den Ereignissen gezeichneter Swissair-Chef Philippe Bruggisser vor laufenden Fernsehkameras. Am Donnerstagnachmittag bestätigt Swissair offiziell in einer Presseerklärung den Tod aller 229 Insassen von SR 111.

Auch die älteste Tochter von Urs Zimmermann hört im Radio von dem Unfall, läuft zu ihrer Mutter und berichtet ihr von dem Unfall. "Ich ging zum Fernseher, sah die Trümmer und wusste, dass Urs das nicht überlebt haben konnte", schildert seine Witwe Prisca später gegenüber Medien.

Geborgene Wrackstücke mit der Registrierung der Unglücksmaschine, HB-IWF - Foto: TSB
Geborgene Wrackstücke mit der Registrierung der Unglücksmaschine, HB-IWF - Foto: Courtesy TSB of Canada

Sie ruft zunächst ihren Bruder an und anschließend im Restaurant, um den Tisch für die geplante Geburtstagsfeier ihres Mannes am nächsten Tag abzubestellen. Danach informiert sie alle Gäste, die zu der Feier eingeladen waren über das, was geschehen ist. Noch im Oktober 1998 wird Prisca Zimmermann mit ihren drei Kindern nach Halifax fliegen und die in einem Hangar zusammengetragenen Überreste der Unglücksmaschine in Augenschein nehmen. "Die enorme Gewalt, mit der das Flugzeug zerrissen worden ist, nahm mir die letzte Hoffnung, dass irgend jemand überlebt haben könnte und mir wurde klar, dass auch mein Mann tot war."

Prisca Zimmermann wird das Trauma auf ihre Art verarbeiten und wieder als Flugbegleiterin für Swissair zu arbeiten beginnen. "Meine Kinder haben mich zu diesem Schritt ermutigt", erläuterte sie auf Anfrage gegenüber Austrian Wings. Ihr erster Flug führte sie ausgerechnet an Bord einer MD-11 nach New York. "Das war natürlich ein sehr merkwürdiges Gefühl, doch im Nachhinein betrachtet würde ich sagen, dass mich dieser Flug stärker gemacht hat." Noch heute arbeitet Prisca Zimmermann als Flight Attendant.

Der Absturz der Maschine war ein nationales Trauma für die Schweiz. Der Bundesrat beschließt, dass als Zeichen der Trauer alle Flaggen im Land auf Halbmast gesetzt werden. Bis heute ist der Crash von SR 111 das größte Unglück in der Geschichte der Schweizer Luftfahrt und das schwerste der Swissair.

Aus den Trümmern von Swissair 111 geborgene Safety Card - Foto: Screenshot YouTube
Aus den Trümmern von Swissair 111 geborgene Safety Card - Foto: Screenshot YouTube

Swissair-Sondermaschinen mit Angehörigen und Medienvertretern an Bord starten noch am Freitag, zwei Tage nach dem Crash, mit Ziel Halifax. Rund 200 speziell geschulte Mitarbeiter, die für oder im Auftrag der Swissair tätig sind, darunter auch 50 Psychologen, betreuen die Hinterbliebenen. Im Swissair Hauptquartier auf dem Balsberg bei Zürich stehen in diesen schweren Stunden auch Angehörige der Austrian Airlines im Einsatz, denn die österreichische Fluglinie kooperiert zu dieser Zeit eng mit der Swissair.

Geleitet wurde das österreichische Krisenteam in Zürich damals übrigens von Peter Hödl, der heute für die AUA-Notfallorganisation ("Emergency Response Oranisation") verantwortlich zeichnet. “Die Erfahrungen von SR111 sowie anderer Ereignisse sind beim Aufbau unserer eigenen Organisation eingeflossen. Nicht zuletzt deshalb verfügt Austrian Airlines heute über ein solides Notfallprogramm und –system”, erläutert der Kommunikationsprofi gegenüber “Austrian Wings”.

Tragische Ironie der Geschichte: Erst am Tag des Absturzes hatten 20 Angehörige der Swissair ihr spezielles Notfalltraining für einen solchen Fall abgeschlossen und stehen nun an vorderster Front im Einsatz.

Trümmerteile der verunglückten SR 111 auf dem Meeresgrund - Foto: Screenshot YouTube
Trümmerteile der verunglückten SR 111 auf dem Meeresgrund - Foto: Screenshot YouTube

Eine enorm belastende Situation für die Helfer. Auch die Einwohner der Küstenorte nahe der Absturzstelle unterstützen Swissair und die Angehörigen wo sie nur können.

Arbeiter bergen die Wrackstücke von Swissair 111 - Foto: TSB of Canada
Arbeiter bergen die Wrackstücke von Swissair 111 - Foto: Courtesy TSB of Canada

Doch nachdem feststeht, dass es keine Überlebenden gibt, ist der nächste Schritt, die Flugdatenschreiber und möglichst viele Wrackteile zu bergen, um die Absturzursache klären zu können. Parallel dazu läuft die Bergung der menschlichen Überreste der Opfer des Unglücks an. Dazu werden eigens 16 Seaking-Helikopter und 200 Techniker vor Ort stationiert. Insgesamt werden 15.000 Leichenteile geborgen. Bis Dezember 1998 können zwar alle Opfer mittels Zahnschema- und/oder DNA-Analysen identifiziert werden, trotzdem bleiben am Ende 22 Särge mit menschlichen Überresten übrig, die keinem der Opfer zuordenbar sind und in Bayswater beigesetzt werden.

Das Bayswater Memorial - Foto: Wiki Commons
Das Bayswater Memorial - Foto: Wiki Commons

Zur Erinnerung an die so jäh aus dem Leben gerissenen Insassen von SR 111 wurden auf beiden Seiten der St. Margarets Bay Gedenkstätten errichtet – eine befindet sich in Peggy's Cove, die andere in Bayswater.

Auf dem Flughafen Zürich Kloten erinnert im einstigen Swissair-Betriebsgebäude, das heute von SWISS genutzt wird, eine respektvoll angelegte und stets akkurat gepflegte Gedenkstätte an die verunglückte Crew von SR 111.

Gedenkstätte für die Crew von SR 111 im Flugbetriebsgebäude von Swissair, heute von SWISS genutzt - Foto: Austrian Wings Media Crew
Gedenkstätte für die Crew von SR 111 im Flugbetriebsgebäude von Swissair, heute von SWISS genutzt - Foto: Austrian Wings Media Crew

Die Bergung der Trümmer

Da sich der Absturz in kanadischem Hoheitsgebiet ereignet hatte, waren die kanadischen Behörden federführend bei der Unfallermittlung. Mit der Leitung des Teams wurde Vic Gerden, ein ehemaliger Militärpilot beauftragt.

Eines der drei Pratt & Whitney 4462 bei der Bergung - Foto: Courtesy TSB of Canada
Eines der drei Pratt & Whitney 4462 bei der Bergung - Foto: Courtesy TSB of Canada

Zunächst wurde mit Spezialtauchern gearbeitet, denen es am vierten Tag gelang, den Flugdatenschreiber (FDR) aus einer Tiefe von rund 60 Metern zu bergen. Kurz darauf fand man auch den Cockpit Voice Recorder (CVR).

Der geborgene Flugschreiber - Foto: Screenshot YouTube
Der geborgene Flugschreiber - Foto: Screenshot YouTube
Die Fahrwerke gehörten zu den größten geborgenen Wrackteilen - Foto:  Courtesy TSB of Canada
Die Fahrwerke gehörten zu den größten geborgenen Wrackteilen - Foto: Courtesy TSB of Canada

Doch angesichts des rund 125 Meter langen Trümmerfeldes mit Millionen kleinster Teile, war den Unfallforschern bald klar, dass es mit dieser Methode Jahre dauern würde, alle Wrackteile zu bergen.

Ein Spezialtaucher bei der Bergung von Wrackteilen der HB-IWF "Vaud" - Foto: Screenshot YouTube
Ein Spezialtaucher bei der Bergung von Wrackteilen der HB-IWF "Vaud" - Foto: Screenshot YouTube

Bis zum 21. Oktober waren gerade einmal 27 Prozent der Teile geborgen, und die Ermittler hatten in einem Hangar damit begonnen, mit diesen Stücken den vorderen Rumpfbereich inklusive des Cockpits zu rekonstruieren.

Außenaufnahme des rekonstrukierten Cockpitbereiches der HB-IWF in einem frühen Stadium der Ermittlungen - Foto: TSB
Außenaufnahme des rekonstrukierten Cockpitbereiches der HB-IWF in einem frühen Stadium der Ermittlungen - Foto: TSB

Aufgrund der bis dahin verfügbaren Wrackteile und der Informationen aus dem FDR und dem CVR (auf beiden Geräten fehlten jeweils die letzten sechs Minuten des Fluges) wurde ein Kabelbrand in der Nähe des Cockpits als Auslöser des Absturzes vermutet.

Ermittler bei der Rekonstruktion des vorderen Rumpfteiles der HB-IWF - Foto: Courtesy TSB of Canada
Ermittler bei der Rekonstruktion des vorderen Rumpfteiles der HB-IWF - Foto: Courtesy TSB of Canada

Doch diese These konnte mit dem vorhandenen Material von der Unglücksstelle noch nicht belegt werden, es blieb eine Theorie, die es nun mit harten Fakten zu untermauern galt.

Rekonstruktion des zentralen Overheadpanels mit Sicherungen der HB-IWF (SR 111) - Foto: TSB
Rekonstruktion des zentralen Overheadpanels mit Sicherungen der HB-IWF (SR 111) - Foto: TSB

Deshalb wurde ein spezielles Bergeschiff, die "Queen of the Neatherlands" angeheuert, die mit einer Art riesigem "Staubsauger" den Meeresboden des Trümmerfeldes absaugte. Anschließend mussten aus Tonnen von Schlamm und Geröll die Wrackstücke heraussortiert werden, eine enorm mühsame und zeitraubende Arbeit, die sich jedoch auszahlen sollte.

Auch kleinste Teile der Unglücksmaschine mussten ausgesiebt werden - Foto: Courtesy TSB of Canada
Auch kleinste Teile der Unglücksmaschine mussten ausgesiebt werden - Foto: Courtesy TSB of Canada

Bis Dezember 1999 – etwas mehr als ein Jahr nach dem Absturz – waren 98 Prozent des Flugzeugs geborgen, und die Experten arbeiteten mit Hochdruck daran, ihre Theorie zu beweisen.

Durch die enorme Wucht des Aufpralls war Swissair 111 in mehr als zwei Millionen Einzelteile zerrissen worden - Foto: Courtesy TSB of Canada
Durch die enorme Wucht des Aufpralls war Swissair 111 in mehr als zwei Millionen Einzelteile zerrissen worden - Foto: Courtesy TSB of Canada

Rund 350 Experten, darunter Mitarbeiter von TSB, NTSB, FAA, AAIB, Boeing, Pratt & Whitney und Swissair sichteten und kategorisierten an die zwei Millionen Einzelteile.

Darstellung des rekonstruierten Rumpfvorderteils der "Vaud" - Foto/Grafik: TSB
Darstellung des rekonstruierten Rumpfvorderteils der "Vaud" - Foto/Grafik: TSB
Die geborenen Stücke der Unglücksmaschine wurden sortiert und in Kartons aufbewahrt - Foto: Courtesy TSB of Canada
Die geborenen Stücke der Unglücksmaschine wurden sortiert und in Kartons aufbewahrt - Foto: Courtesy TSB of Canada

In den kommenden vier Jahren forschten zeitweise bis zu 4.000 Menschen nach der Unglücksursache, nahmen dabei jedes noch so kleine Wrackteil, jeden Millimeter Draht unter die Lupe.

Innenaufnahme des rekonstruierten Cockpits der HB-IWF (Swissair 111) - Foto: Courtesy TSB of Canada
Innenaufnahme des rekonstruierten Cockpits der HB-IWF - Foto: Courtesy TSB of Canada

Die Experten begaben sich auch nach Zürich zur Technik der Swissair und nahmen die Gelegenheit eines Lokalaugenscheines an Bord einer MD-11 wahr, die gerade einem großen Check unterzogen wurde. Am Ende führte diese 39 Millionen Dollar teure Sisyphosarbeit schließlich zum Erfolg. Die Ermittler entdeckten die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen - in Form eines Kabels des Bordunterhaltungssystems, das Spuren eines Kurzschlusses aufwies.

Der Kurzschluss an diesem Kabel löste die Katastrophe von SR 111 aus, sind sich die Ermittler sicher - Foto: TSB
Der Kurzschluss an diesem Kabel löste die Katastrophe von SR 111 aus, sind sich die Ermittler sicher - Foto: TSB

Somit war es den Fachleuchten möglich, den genauen Ablauf der Ereignisse zu rekonstruieren.

Die Rekonstruktion

Während des Fluges kam es in einem Kabel des Bordunterhaltungssystems, das sich zwischen Cockpitverkleidung und Außenwand befand, aus ungeklärten Gründen zu einem Kurzschluss, ohne dass dieser von den Piloten bemerkt werden hätte können, weil die Sicherung nicht auslöste.

Außenaufnahme des rekonstruierten vorderen Rumpfteils von Swissair 111 - Foto: Courtesy TSB of Canada
Außenaufnahme des rekonstruierten vorderen Rumpfteils von Swissair 111 - Foto: Courtesy TSB of Canada

Durch die Funkenbildung wurde Isolationsmaterial aus Metallisiertem Polyethylenterephthalat, kurz MPET, genannt, in Brand gesetzt. Etwas, das eigentlich nicht hätte geschehen dürfen, denn MPET war von der US-Luftaufsicht FAA als "nicht brennbar" zertifiziert worden. Das Feuer gewann sukzessive an Intensität und folgte dem von den Recirculation Fans erzeugten Luftstrom in Richtung der Kabine der Ersten Klasse, wo ihm die über der vorderen Bordküche installierten MPET-Matten reichlich Nahrung boten.

Diese Grafik verdeutlicht, wie die Flammen dem Luftstrom in Richtung Passagierkabine folgten - Grafik: Screenshot YouTube
Diese Grafik verdeutlicht, wie die Flammen dem Luftstrom in Richtung Passagierkabine folgten - Grafik: Screenshot YouTube

Dort breitete es sich von Zimmermann und Löw unbemerkt zwischen der Decke der Kabinenverkleidung und dem Flugzeugrumpf weiter aus, gleichwohl strömte durch Schlitze zwischen den Panelen aus diesem Brand resultierender Rauch ins Cockpit.

Da es in diesem Bereich jedoch keinerlei Rauch- oder Feuermelder gab, führten die Piloten das Problem auf die Klimaanlage zurück, wie aus den Aufzeichnungen des Cockpit Voice Recorders hervorgeht. Die entsprechende Checkliste konnte in diesem Fall natürlich keine Abhilfe schaffen, da die Ursache des Rauches viel gefährlicherer Natur war. Als Löw und Zimmermann gemäß ihrer Checklisten den "Cabin Bus Swich" betätigten, unterbrachen sie die Stromversorgung für die Kabine. Das führte zu einem Ausfall der Recirculation Fans und zu einer Veränderung des Luftstroms in Richtung Cockpit. Oder anders ausgedrückt: Dadurch, dass sich die Piloten völlig korrekt verhielten, verschlimmerten sie unwissentlich die Situation und besiegelten das Schicksal der "Vaud". Denn jetzt durchbrachen die Flammen innerhalb kürzester Zeit die Brandbarriere zum Cockpit, brachten die oberen Panele zum Schmelzen und drangen dann mit hoher Geschwindigkeit in das Cockpit ein.

Nach dem Abschalten des "Cabin Bus" gemäß der Checkliste, veränderte sich der Luftstrom und das Feuer drang jetzt mit aller Kraft Richtung Cockpit, wie diese Darstellung verdeutlicht - Grafik: Screenshot YouTube
Nach dem Abschalten des "Cabin Bus" gemäß der Checkliste, veränderte sich der Luftstrom und das Feuer drang jetzt mit aller Kraft in Richtung Cockpit, wie diese Darstellung verdeutlicht - Grafik: Screenshot YouTube

Dabei zerstörten sie schließlich zahlreiche Systeme, was zum Ausfall der Instrumente, des Autopiloten, der beiden Flugdatenschreiber und der Autothrottle sowie zum falschen Feueralarm für Triebwerk Nummer 2 führte, das Löw kurz vor dem Aufprall noch abschaltete, in dem Glauben, nun auch noch einen Triebwerksbrand bekämpfen zu müssen, während die Flammen ins Cockpit schlugen und sein Kollege Zimmermann versuchte, sie zu bekämpfen.

Als Chefermittler Vic Gerden zur Präsentation des Abschlussberichtes Ende September 2003 vor die Presse trat, hielt er eine MPET-Isolationsmatte in seinen Händen und verkündete: "Ohne dieses und andere brennbare Materialien hätte dieser Unfall nicht entstehen können."

Chefermittler Vic Gerden bei der Präsentation des Unfallberichtes mit einer MPET-Isolationsmatte - Foto: Screenshot YouTube
Chefermittler Vic Gerden bei der Präsentation des Unfallberichtes mit einer MPET-Isolationsmatte - Foto: Screenshot YouTube

Sicherheitsempfehlungen

Im Untersuchungsbericht der kanadischen Behörde wurden als Konsequenz aus dem Absturz von Swissair 111 insgesamt 23 Sicherheitsfempfehlungen ausgesprochen. Unter anderem sollten neue Verfahren für die Zertifizierung feuerfester Materialien erarbeitet und die Crews besser für die Bekämpfung von Bränden an Bord ausgebildet werden. Auch die Notfallchecklisten sollten überarbeitet werden und die Verbesserung der Positionierung und Ablesbarkeit der Standby-Instrumente wurde angeregt.

Außerdem wurde die Installation von Feuermeldern sowie Videokameras in sensiblen Hohlraumbereichen von Flugzeugen empfohlen. Das als feuerfest zertifizierte, tatsächlich jedoch hochentflammbare MPET-Isolationsmaterial wurde aus allen zivilen Verkehrsflugzeugen verbannt. Als Skandal kann jedoch der Umstand gewertet werden, dass die FAA schon zwei Jahre vor dem Absturz Kenntnis von der Brennbarkeit von MPET hatte, aber nichts unternahm.

Swissair handelte

Swissair selbst war schon zuvor auf Basis erster Zwischenergebnisse aktiv geworden und hatte, als sich der Verdacht, das Inflight Entertainment System könnte etwas mit dem Absturz zu tun haben, dieses auf allen MD-11 und jenen 3 Boeing 747, in die es bisher verbaut worden war, außer Betrieb genommen. Denn kurz nach dem Unfall wurde bekannt, dass drei Flugbegleiter bereits am 10. August auf der späteren Unglücksmaschinen Brandgeruch wahrgenommen hatten, der mit hoher Wahrscheinlichkeit durch überhitzte Kabel des Bordunterhaltungssystems ausgelöst worden war. Die MPET-Isolationsmatten wurden gegen solche aus einem tatsächlich flammhemmenden Material ausgetauscht.

Ein Techniker beim Austausch der MPET-Matten - Foto: Screenshot YouTube
Ein Techniker beim Austausch der MPET-Matten - Foto: Screenshot YouTube

Zudem folgte die Swissair den über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehenden Empfehlungen der Kanadier und installierte in ihrer MD-11-Flotte zusätzliche Feuermelder und Videokameras in jenen Bereichen, in denen das Feuer bei SR 111 ausgebrochen war – allerdings sind diese später bei SWISS und heute bei anderen Betreibern im Einsatz stehenden MD-11 die einzigen weltweit, die über diese Technologie verfügen.

Kontroverse um das Verhalten der Piloten / Änderung der Notfallchecklisten

Schon kurze Zeit nach dem Absturz kamen Diskussionen auf, ob sich die Piloten in dieser Situation richtig verhalten hatten oder ob sie auf das Abarbeiten der Checklisten verzichten und stattdessen sofort landen hätten sollen und damit die Katastrophe möglicherweise verhindert worden wäre.

Fakt ist jedenfalls, dass Swissair ihre Piloten bereits am 5. Juli 1999 in einem Bulletin anwies, bei Rauchentwicklung so rasch als möglich einen Sinkflug auf 10.000 Fuß einzuleiten und frühzeitig die Erfordernis von Fuel Dumping zu evaluieren. Auch solle gegebenenfalls nicht mit der Erklärung eines Notfalls gezögert werden. Bis heute sind sich Piloten und Flugsicherheitsexperten nicht darüber einig, ob ein früherer Sinfklug und ein Direktanflug die Katastrophe hätten verhindern können.

"Auch, wenn die Piloten das Feuer früher entdeckt hätten, wegen der schnellen Ausbreitung wären sie nie in der Lage gewesen, eine sichere Landung in Halifax durchzuführen", sagte Vic Gerden bei der Präsentation des Abschlussberichtes.

In diesem kommen die Ermittler nämlich zu dem Schluss, dass der frühestmögliche Zeitpunkt für eine Landung um 01:27 Uhr gewesen wäre. Doch bereits um 01:25 Uhr, also zwei Minuten zuvor, versagten alle wichtigen Systeme. Demnach wäre eine sichere Landung keinesfalls zu erwarten gewesen, so der Bericht.

Dem jedoch widersprechen andere Piloten mit dem Argument, dass man in zwei Minuten Entfernung zum Flughafen bereits Sichtkontakt zur beleuchteten Piste und damit eine visuelle Referenz gehabt hätte, wodurch eine Landung durch den Ersten Offizier auch ohne Instrumente möglich gewesen wäre, während der Kapitän das Feuer im Cockpit bekämpfen hätte können. Möglicherweise hätte es zwar eine Bruchlandung mit Verletzten und Toten gegeben, aber die Wahrscheinlichkeit, dass der Großteil der Insaßen überlebt hätte, wäre realistischerweise gegeben gewesen.

Eine ganz ähnliche Ansicht vertritt auch der Luftfahrtjournalist und Pilot Tim van Beveren, der ein Buch über den Absturz von Swissair 111 geschrieben hat:

"Rauch an Bord bedeutet meistens Feuer. Und ein Feuer heißt, dass man so rasch als möglich landen muss. Hätten die Piloten von SR 111 diesen Grundsatz befolgt, hätten sie Halifax erreicht. Die Schlussfolgerung, dass es keine Rettung für die 'Vaud' gab, zu der Vic Gerden und sein Team im offiziellen Untersuchungsbericht kommen, konnte mehrfach im Simulator widerlegt werden. Nicht nur ich habe das getan, sondern auch zahlreiche mit mir gut befreundete MD-11 Piloten, und wir haben es immer geschafft. Allerdings nur dann, wenn wir bei den ersten Anzeichen von Rauch im Cockpit das sogenannte 'Zack-Runter-Rein' Verfahren angewendet haben. Das bedeutet, mit maximaler Sinkrate runter, dabei gleichzeitig Treibstoff ablassen und schnurstracks auf den nächsten Flughafen zu. Wenn man sich allerdings Zeit läßt und gegebenenfalls noch an Verfahren hält, haut das nicht hin.“

"Rauch bedeutet nicht automatisch Feuer"

Der Ansicht, dass "Rauch" gleich "Feuer" bedeutet, widersprechen aber wiederum andere Fachleute. Denn bei vermeintlichem Rauch kann es sich beispielsweise lediglich um verdampfendes Kondenswasser aus der Klimaanlage handeln. Dieses unterscheide sich jedoch vom Geruch her deutlich von einem Brand, gibt Fachmann van Beveren als Einwand zu bedenken. Die Crew von SR 111 hatte laut dem offiziellen Ergebnis der Ermittler dennoch schlichtweg keinerlei Grund anzunehmen, dass sich über und hinter ihnen ein tödliches Feuer entwickelte, wie der Unfallbericht festhält:

"There was nothing in their experience that would have caused them to consider the smoke to be associated with an ongoing uncontrolled fire consuming flammable material above the ceiling. Industry norms at the time of the SR 111 occurrence were such that other flight crews, if faced with the same scenario, would likely have interpreted the limited cues available in a similar way."

Ein von Austrian Wings um eine Stellungnahme gebetener Pilot erklärte zum Vorgehen der Piloten der Unglücksmaschine:

"Das Rauch in Cockpit automatisch zu einer Notlandung führt ist Unsinn. Stellen Sie sich zum Beispiel einen Raucher in der Toilette vor, der den Mistkübel in Brand setzt. Wenn man also die Quelle findet und eliminiert, ist das zwar sicher ein Stress, aber landen muss man deswegen nicht. Oder: einen Ofen der Feuer fängt. Oft entzünden sich dort Speise(öl-)reste. Setze ich wegen eines gelöschten Ofens 400 Leute in Gander aus? Bei mir an Bord schüttete einmal eine Flugbegleiterin heißen Kaffee in den Müll in dem schon Reste von Trockeneis lagen. Das hat auch mächtig geraucht. Was ich sagen will: Es gibt kein Patentrezept. Bei einem anderen Fehler im System der sich gleich präsentiert hätte, hätte das selbe Handeln der SR 111-Crew einen Bilderbuchemergency produziert. Es gibt durchaus Unfälle und Zwischenfälle wo man Fehlverhalten erkennen kann, dieser Unfall gehört für mich jedenfalls nicht dazu. Meine Meinung zu diesem Unfall ist daher folgende: Möglicherweise wäre eine rasche Landung rettend gewesen, ich glaube aber, die Kollegen haben das getan von dessen Richtigkeit man im Sinne der Sicherheit 100%ig überzeugt war."

Ein weiterer Flugkapitän sieht die Sache ähnlich und meint, dass der Unfall von Swissair 111 zu einem grundsätzlichen Umdenken im Umgang mit Rauch an Bord geführt hat:

"Vor SR 111 hat man bei 'Smoke/Fire' zunächst einmal die Checkliste abgehandelt, versucht die Rauchquelle zu lokalisieren und dann zu isolieren (bei elektrischem Smoke). Ich erinnere mich, dass auf der MD80 wechselweise die Generatoren und Stromkreise abgeschaltet wurden, dann wurde minutenlang gewartet, ob der Rauch weniger wird. Wenn nicht, wurde der Generator wieder aufgeschaltet und die andere Seite abgeschaltet. Das Ganze hat eine gefühlte Ewigkeit gedauert, während es munter weitergeraucht hat. Der Absturz von SR 111 führte, wie bereits erwähnt, zu einem radikalen Umdenken. Die Untersuchung dieses und ähnlicher Vorfälle hat ergeben, dass die durchschnittliche Zeit bei einem Feuer an Bord bis zum Crash nur circa 14 Minuten beträgt, sofern das Feuer nicht bekämpft werden kann. Das ist sehr, sehr wenig."

Heute sei "Smoke & Fire" deshalb ein "High Level Emergency", der auch immer wieder am Simulator geübt werde und auch die beste Besatzung an ihre Grenzen führe. "Jeder von uns hofft, so etwas nie in Wirklichkeit erleben zu müssen."

So steht mittlerweile beispielsweise auf der "Smoke & Fire" Checkliste des A320 als erster Punkt in fetter roter Schrift "LAND ASAP", die Kurzform für "Land as soon as possible".

Aktuelle "Smoke/Fumes" Checkliste eines A320; als erster Punkt ist in roter Schrift "LAND ASAP" augeführt; zu Zeiten des Absturzes von Swissair 111 galt das umgekehrte Prinzip, wonach zuerst in aller Ruhe sämtliche Punkte der Checkliste abgearbeitet wur
Aktuelle "Smoke/Fumes" Checkliste eines A320; als erster Punkt ist in roter Schrift "LAND ASAP" angeführt; zu Zeiten des Absturzes von Swissair 111 galt das umgekehrte Prinzip, wonach zuerst in aller Ruhe sämtliche Punkte der Checkliste abgearbeitet wurden und erst, wenn diese Maßnahmen keinen Erfolg brachten, eine Landung in Erwägung gezogen werden sollte - Grafik: ZVG / Archiv Austrian Wings

Bleibt also die Frage, ob man den Piloten von SR 111 ihr Verhalten zum Vorwurf machen kann.

"Nein", meint der ehemalige Kapitän einer großen österreichischen Fluglinie abschließend. "Meiner Meinung nach handelte die Besatzung damals völlig korrekt, im Rahmen dessen was sie gelernt haben und im Rahmen der SOP's ("Standard Operating Procedures", Anm. d. Redaktion). Das ist genau das, was man von einer gut geschulten Besatzung erwartet. So gesehen gehen die Vorwürfe, was sie vielleicht alles anders hätten machen können, ins Leere. Außerdem stelle man sich vor, der geringe Smoke, den sie damals anfänglich hatten, hätte zu einer sofortigen Ausweichlandung mit Übergewicht geführt, und es hätte unter Umständen einen Overrun mit Toten gegeben. Das hätte damals zurecht niemand verstanden, und vielleicht hatten die Kollegen das auch im Kopf...“

Die Unglücksmaschine und die Crew von SR 111 - Fotos: Andy Herzog, Archiv; Montage: Markus Dobrozemsky
Die abgestürzte "Vaud" und die Crew von SR 111 - Fotos: Paul Bannwarth, Archiv / Bildmontage: Markus Dobrozemsky

Lesen Sie in unserer "Punktlandung" vom 7. September 2013 mehr zum Thema Thema "Rauch im Cockpit"! Austrian Wings vergleicht dabei unter anderem die vor 15 Jahren gültigen Verfahrensweisen mit den heutigen. In einem Videobeitrag beleuchten wir zudem die Brisanz eines solchen Notfalls und erörtern mögliche Vorgehensweisen zusammen mit Peter Beer, dem Präsidenten der Austrian Cockpit Association.

In ehrender Erinnerung der Crew und den Passagieren von Swissair 111 gewidmet, deren tragischer Tod dazu beigetragen hat, die Luftfahrt noch sicherer zu machen.

Wir bedanken uns bei all jenen Piloten und Experten, die diesen Bericht mit ihrer Fachkenntnis unterstützt haben. Spezieller Dank auch an Tim van Beveren, der für die Recherche zu diesem Thema sein vergriffenes Buch "Flug Swissair 111. Die Katastrophe von Halifax und ihre Folgen" zur Verfügung gestellt hat. Ein herzliches Dankeschön und Ausdruck besonderer Wertschätzung geht an Prisca Zimmermann, die Ehefrau des verunglückten Kapitäns, die sich den Autoren-Fragen geduldig und bereitwillig gestellt hat.

 

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Wenn Sie zu diesem Thema mit uns Kontakt aufnehmen möchten, schreiben Sie bitte an sr111(at)austrianwings.info - wir freuen uns auf Ihre Nachricht, die wir auf Wunsch auch vertraulich behandeln ("at" bitte durch das @-Zeichen ersetzen).

(red CvD, HP, IMH / Titelbild: Die spätere Unglücksmaschine HB-IWF beim Start - Foto: Werner Fischdick)