Die Etymologie der TU-134
Nachdem die Aeroflot erfolgreich mit der Tu-104 diverse Strecken in den Westen und nach Fernost bediente, und man der Welt gezeigt hatte, wozu der Sozialismus in der Lage war, war es an der Zeit, den neuen Jetantrieb auch in kleinere Flugzeugtypen zu integrieren. Auf der Langstrecke war dies anfänglich nicht nötig, da dort der Riesenprop Tu-114 Möglichkeiten bot, die noch lange ausreichend sein würden. Die Tu-104 erwies sich, im Kontext zur damaligen Zeit, in welcher sie betrieben wurde, als zuverlässig und leistungsfähig im mittleren Passagier - Segment. Auf kurzen und mittleren Strecken jedoch war großer Aufholbedarf. Die vielen Il-12 und IL-14, sowie die kleineren LI-2 mussten angesichts der neuen Möglichkeiten ersetzt werden. Mit der Yak-40 entwickelte man einen äußerst versatilen Jet am unteren Ende der nötigen Kapazitäten. Somit war der Bedarf eines Sechzigsitzers gegeben.
Mit den Erfahrungen aus dem TU-16 Bomber und der davon abgeleiteten TU-104 machte man sich an die Konstruktion eines kleinen Jets. Das Gerücht Tupolevs, Flugzeuge seien eigentlich umgebaute Bomber, stimmt natürlich nicht und ist lediglich „Westpropaganda“. Was allerdings richtig ist, ist die Tatsache, dass man auf bestehende Baugruppen, Designs und Erfahrungen zurückgriff. So sollte auch der Sechzigsitzer eine starke Ähnlichkeit mit bestehenden Konstruktionen aufzeigen. Es verwundert nicht, dass sich alle Tupolevs, seien es die TU-16 Bomber oder die frühen Passagierflugzeuge bis hin zur TU-154 in ihrer „Bau - DNA" gleichen. Das charakteristischste Merkmal ist wahrscheinlich das Hauptfahrwerk, welches bei allen frühen Tupolevs nach hinten in dafür vorgesehene Gondeln an der Hinterkante der Tragflächen einfährt. Eine Schwachstelle aus frühen Tagen wurde jedoch in der TU-134 erstmals beseitigt. Hatten die TU-104, TU-114 und die TU-124 in der Mitte direkt über dem Hauptholm des Flügels, eine Stufe in der Kabine (unter welcher der Hauptholm verlief), so war die TU3 erstmals eine Konstruktion mit einer durchgehenden Passagierkabine. Bei älteren Mustern erkennt man diese Stufe leicht an den nach oben versetzten Fenstern. Überhaupt wurden viele der durch militärische Baugruppen bedingten Makel in der kleinen Tushka (wie Tupolevs in Russland liebevoll genannt werden) erstmals beseitigt. sie als erster „reinrassiger“ Passagierjet der Sowjetunion. Bevor die TU-134 die ersten Linien der Aeroflot bedienen konnte, sollte aber ein anderer Tupolev Jet auf der Bildfläche erscheinen.
Mit der TU-124 erhob sich Ende März 1960 der lang ersehnte neue Kurzstreckenflieger in die Lüfte. Im Wesentlichen brachte der Jet alle Merkmale seiner Verwandten mit sich: Auslegung des Hauptfahrwerks, Glasnase für den Navigator, Tiefdecker mit 35° Pfeilung und negativer V-Stellung, 2 Triebwerke am Rumpf liegend (mittig entlang der Flächenprofilsehne und dem Hauptholm). Die Abmessungen entsprachen in etwa 75% denen der TU-104. Die beiden Muster sahen sich daher zum Verwechseln ähnlich. Im Oktober 1962 wurde der Jet nach einem aufwendigen Zertifizierungsprozess bei Aeroflot in Dienst gestellt. Trotz der nur 44 Sitze in ihrer Standardauslegung beeindruckte das Modell durch hervorragende operative Leistungen. Die Version TU-124W, welche für den Export vorgesehen war, konnte 56 Passagiere aufnehmen und verkaufte sich unter anderem in den Irak, in die CSSR, in die DDR und nach Indien.
Für weltweites Aufsehen sorgte vor allem die TU-124 mit der Kennung CCCP-45021, welche nach technischen Problemen eine gelungene Notwasserung in der Newa, direkt im Stadtzentrum von Leningrad hinlegte. Nachdem zwei Brücken gerade so, ohne funktionierende Triebwerke, übersegelt wurden, setzte der damals erst 27- Jährige Kommandant Victor Mostovojy seine Tupolev neben ein Schleppboot, vor den Augen vieler Zeugen, in den Fluss. Nachdem der Kapitän des Schleppers bemerkt hatte, was passiert war, schipperte dieser der Tupolev zu Hilfe. Er zerschlug die Cockpitscheiben, taute ein Seil am Steuerhorn der Tupolev an und zog sie damit an Land. Die Passagiere blieben dabei an Bord und verließen die Tushka über einen Luke auf der Rumpfoberseite. Alle Passagiere stiegen heil aus dem Flieger aus! Welche Leistung nicht nur der Kommandant der TU-124 erbracht hatte, sondern auch die Ingenieure, welche dieses Flugzeug bauten, kann man sich kaum vorstellen - Captain Sullenberger täte sich da auf alle Fälle leichter! Diese Anekdote soll einerseits das technische Niveau verdeutlichen, andererseits ist sie ein schönes Beispiel dafür, von welcher Qualität russische Flugzeuge sind.
Der Grund warum man bei der Betrachtung der TU-134 nicht um die TU-124 umkommt, liegt in der sehr, sehr engen Verwandtschaft der beiden Typen. Oft ranken sich um das Entstehen neuer Airliner in der Sowjetunion Legenden, die vor allem Entscheidungen und Direktiven der Parteigranden betreffen. Im Falle der TU-134 scheint gesichert zu sein, dass der damalige Generalsekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, so von der leisen Kabine der Sud Aviation Caravelle beeindruckt war, dass er ein Modell der TU-124 mit am Heck montierten Triebwerken orderte. Daraus entstand ein Prototyp mit der Bezeichnung TU-124A und der Kennung CCCP-45075, optisch kaum mehr von den nachfolgenden TU-134 zu unterscheiden. Da man nun auch gleich mehr Sitze im Flieger unterbringen wollte, musste Solovjev ein neues Triebwerk bauen. Mit dem D-30 Bläsertriebwerk schaffte das Büro die Basis für eines der erfolgreichsten Jettriebwerke in der Geschichte. Nachdem nun die Änderungen dermaßen augenscheinlich waren, entschied man sich das neue Modell fortan als TU-134 zu bezeichnen. Der Prototyp CCCP-45075 stand noch bis vor kurzem, in jämmerlichem Zustand, in der Ulitsa Molostovykh in Moskau. Leider wurde auch dieses Stück sowjetischer Luftfahrtgeschichte vor wenigen Monaten als Altmetall verschrottet! Die Gier nach Geld und Korruption machten auch vor diesem technischen Erbe nicht halt, wie schon bei der TU-114, welche vor den Toren Domodedovos stand und auch zum Schrottwert verkauft wurde.
Im Laufe der Jahre hatte sich auch die TU-134 immer weiter entwickelt. Von der Urversion der TU-124A bis hin zur letzten Serienversion TU-134B-3 wurde der Rumpf einmal gestreckt, die Triebwerke erhielten eine Schubumkehr, und das Innere aller 852 jemals gebauten TU3 (Drei – Letter - Code) scheint sich so gut wie gar nicht zu gleichen. Die Kapazitäten der kleinen Tuschka reichten von 64 Passagieren in der Ur- Variante bis hin zu 96 in dichter Bestuhlung in der B-3 Serie. Das Äußere veränderte sich im Laufe der Jahre ebenfalls. Wurde die TU3 ursprünglich mit einer Länge von knapp 35m, Glasnase und dem markanten „Radarkinn“ mit einem 4- Mann- Cockpit ausgeliefert, so waren spätere Versionen bereits 2 Meter länger und das Radar wanderte an die Spitze, wo es mit einer Kunststoffnase abgedeckt wurde, und den Platz des Navigators einnahm. Die Anordnung der Fenster und der Notausgänge, sowie deren Größe, passten sich ebenfalls den Anforderungen an. Zu guter Letzt gibt es auch noch spezielle Varianten, welche mit umgebauter Nase als Trainer für TU-22 und TU-160 Bomber dienen und unter der Bezeichnung TU-134UBL laufen. Einige der vom Militär betriebenen Maschinen können sogar frei fallende Bomben an Außenträgern aufnehmen. Die Vielfalt der Variationen in denen die TU-134 gebaut wurde ist atemberaubend und müsste wohl eher in einer Enzyklopädie abgehandelt werden.
Nach 6 Prototypen und 65 Serien - Exemplaren in der kurzen Stammvariante wurde die Produktion auf die modernisierte Version TU-134A umgestellt, welche die Grundlage für alle weiteren Versionen bildete. Möglicherweise kann sich der eine oder andere Leser noch an die klassischen TU3 erinnern. Diese wurden nach Ungarn, Bulgarien und in die DDR exportiert. Auch war die erste kommerzielle Strecke der Aeroflot mit diesem Typ Strecke Moskau - Kiev - Wien. Von den späteren Serien unterschieden sich die ältesten Maschinen am augenscheinlichsten durch den abgerundeten Dorn am Höhenleitwerk (später war dieser spitz) und den kürzeren Triebwerken ohne Schubumkehr.
Eine TU-134A rollt in Pulkovo
Nachdem der neue A-Standard produziert wurde, fanden die Tupolevs weltweit Absatz. Die meisten staatlichen Fluglinien sozialistischer Bruderstaaten hatten sie ebenso in ihren Flotten wie die Aeroflot und die Airlines, welche nach dem Zerfall der Sowjetunion aus der Aeroflot hervor gingen. Auch in Europa war die kleine Tushka verbreitet, von Polen über die DDR bis nach Bulgarien, von Ungarn und der CSSR bis nach Jugoslawien. Die TU-134 kam vor allem nach der Selbstauflösung des Ostblocks in vielen Farben und Varianten nach Europa und auch nach Wien. Viele Airlines auf dem Gebiet der UdSSR hatten überhaupt nur eine einzige TU3 im Einsatz. Letztlich ist es kaum möglich, eine komplette Liste aller Betreiber der TU-134 zu erstellen. Wie bei allen russischen Modellen ist hier die aufschlussreichste Referenz „russianplanes.net“.
Was die Maschine bei Spottern so beliebt macht, sind neben der Glasnase vor allem die D-30 Triebwerke, welche im Klangerlebnis wohl gleich hinter dem der Rolls Royce Olympus der Concorde rangieren. Beim Anflug kann man eine TU-134 schon von weitem ausmachen, oder besser gesagt das, was die Solovievs in die umgebende Luft entlassen. Erst kurz vor dem Endanflug löst sich in der Regel der Jet optisch aus seiner eigenen Rauchwolke heraus. Böse Zungen behaupten im Falle der Tu-134, sie würde mit Kohlen betrieben werden. Der wahre Aviatiker weiß aber, würde sie auf Kohlen rennen, würde es nicht so sehr rauchen! Wie bereits erwähnt bringt die TU-134 viel aeronautischen Charakter mit an den Start und ist im Betrieb einfach spektakulär. Typisch für den Flieger sind seine großen, runden Fenster, welche wie Bullaugen wirken. Hinter der bereits erwähnten Glasnase sitzt, schräg zur Flugrichtung, der Navigator. Dass von dort aus der KGB Fotos zur Spionage machte ist natürlich wieder als Westpropaganda zu werten. Von seinem Arbeitsplatz aus kann der Navigator das Flugzeug vom Navigationskomplex aus steuern. Zusätzlich hat er ein kleines Tischchen vor sich, auf welchem er Kartenmaterial ausbreitet.
Das als Tiefdecker ausgelegte Tragwerk ist mit seiner negativen V-Stellung für alle Tupolevs der damaligen Zeit ein typisches Konstruktionsmerkmal. Slats sind in der TU3, egal in welcher Variante, nicht verbaut, dafür aber Landeklappen. Das Fahrwerk wird, ebenfalls kennzeichnend für Tupolevs Konstruktionen, in Gondeln hinter der Tragfläche eingezogen. Wie fast alle Airliner der Sowjetunion wurden auch die Tupolevs in Zusammenarbeit mit dem Zentralen Geo- und Hydrodynamischen Institut (ZAGI) in Moskau entwickelt. Die dortigen Ingenieure waren damals Anhänger eines so genannten „Clean Wing Designs“. So hat auch die Tu-134 kaum aerodynamisch störende Elemente an den Flächen, keine Triebwerksgondeln, keine Flap- Fairings. Einzig auf der Oberseite findet man, ebenfalls charakteristisch für die damaligen sowjetischen Airliner, Grenzschichtzäune. Diese verhindern eine „Vermischung“ der verschieden schnell umströmten Zonen am Flügel und unterbinden bei manchen Fluglagen ein Abdriften der Strömung entlang der Flügelvorderkante.
Das Hauptfahrwerk verrät, dass die kleine Tupolev auch mit weniger gepflegten Pisten zurechtkommt. Sollte doch einmal ein Reifen platzen, so ist immer eine eiserne Reserve mit an Bord, welche von der Besatzung gewechselt werden kann. Eine eigene APU (Hilfstriebwerk) macht den Flieger von Bodengeräten unabhängiger, dennoch ist der Flieger auf eine gewisse Infrastruktur angewiesen. Durch die recht hohe Kabine kann nur über externe Stiegen oder aber Fluggastbrücken gebordet werden.
Ganz klar, die TU-134 ist noch ein Jet aus den „guten alten Tagen“. Geflogen wird sie in der Regel von einem Kommandanten, einem ersten Offizier und einem Navigator. Optional ist auch noch ein Mechaniker mit an Bord. In der Kabine kümmern sich, je nach Auslegung 2-3 Flugbegleiter um das Wohl der Reisenden. Typisch für die TU3 ist die Gliederung der Kabine in sogenannte Salone. Je nach Auslegung sind dies in der Tu-134 bis zu vier. Jede Sektion hat ihre zugewiesenen Notausgänge, manchmal konnte man so geschickt die Raucher von den Nichtrauchern trennen. Teilweise fanden sich in der Business Klasse Sitze, welche vis à vis angebracht wurden, mit einem Tischchen in der Mitte. Diese Versionen sind mit der nunmehr verschwindend geringen Anzahl an 134ern zur Gänze Geschichte. Die bei UT Air noch fliegenden Einheiten haben alle modernisierte Kabinen, mit einem einzigen, durchgehenden Salon. Lediglich die 2 Tu-134B-3 in Nordkorea bieten noch klassisches Tushka- Flair. Am Rande sei angemerkt, dass im Zuge einer ersten Modernisierungswelle kurz vor dem Zerfall des Ostblocks einige Maschinen innen mit verschließbaren Gepäckablagen ausgestattet wurden. Dabei hat man auch gleich anstatt der Vorhänge schiebbare Plastikblenden verbaut, wie man sie auch aus anderen Fliegern kennt. Dies bringt den Nachteil, dass der Platz gegenüber der üblichen offenen Ablage deutlich weniger ist und die Fenster kleiner sind, denn der „Ausschnitt“ der Plastikverkleidung nimmt ca. ein Drittel des verfügbaren Fensters in Anspruch.
Die restlichen Einrichtungen an Bord sind klassisch im Flieger untergebracht. Die überaus geräumige Küche findet man gleich hinter dem Cockpit, das WC ist hinten links untergebracht. Gegenüber findet man eine Garderobe und wer geradeaus weiter geht, durch die üblicherweise versperrte Servicetüre hindurch, der landet im Gepäckabteil der Maschine. Eine Besonderheit bietet sowohl das WC als auch die Garderobe: sie verfügen im Deckenbereich über Fenster. Dies ist einerseits angenehm, da das nicht ganz so stille Örtchen (da gleich neben den Turbinen) über Tageslicht verfügt, andererseits kann man von dort aus hervorragend auf das Höhenleitwerk der Maschine blicken. Die Garderobe wiederum bietet extrem viel Platz für so einen kleinen Flieger, ebenso wie die Küche. Eine Galley von solchen Ausmaßen findet man heutzutage nicht einmal mehr auf Widebodies.
Was die Sicherheit der Maschine angeht, so ist sie wie bei vielen russischen Fliegern, unabhängig von der Berechnungsmethode, nicht gerade berauschend. Doch auch bei der TU3 sind die meisten Abstürze auf menschliches Versagen zurückzuführen. Die letzten drei TU-134 Verluste sind ein trauriges Beispiel dafür. So waren es in Samara (UT Air), in Osh (Kyrgistan) und in Petrozavodsk (RusAir) Pilotenfehler. Dazu kommen Zusammenstöße in der Luft, technische Gebrechen aufgrund nicht vorhandener Wartung (z.B. Azerbajan Airlines in Baku) und Terrorereignisse. Wie so oft sind es nicht eventuelle konstruktive Mängel, die sich im Betrieb der Tu-134 fatal auswirkten. Im Gegenteil, die kleine Tushka gleicht eher einem fliegenden Panzer, ein Gefühl welches Passagiere auf der TU3 sehr oft teilen. Die vielen Überlebenden bei diversen Bruchlandungen sind, trotz der einhergehenden Katastrophen, dennoch eine Auszeichnung für dieses Modell und seine Konstruktion.
Mit der in ihr verbauten, bewährten Technik und den Neuerungen hinsichtlich ihrer Auslegung als reiner Passagierjet setzte die Tu-134 in der Sowjetunion einen neuen Standard im Flugzeugbau, an dem sich die Industrie in weiterer Folge noch Jahrzehnte lang messen würde. Heute ist sie beinahe Geschichte. Was dennoch bleiben wird, sind die Erinnerungen an diesen wunderbaren Jet und seine technischen Errungenschaften.
Wer einmal die Chance hatte, auf einer TU-134 fliegen zu dürfen, der kann sich glücklich schätzen, eine vom üblichen Flugerlebnis abweichende Erfahrung gemacht zu haben. Ohne Zweifel wird jeder Aviatiker bestätigen, dass die kleine Tupolev etwas ganz Besonderes ist, egal wie man zu ihr steht. Wie bereits erwähnt war die TU3 einstmals weit verbreitet, heute findet man sie kaum mehr. In den letzten Jahren flog die kleine Tushka in Russland vor allem in entlegenere Regionen, auf Strecken zwischen Großstädten war sie relativ schnell völlig verschwunden. Einerseits war das der mangelnden Kapazität geschuldet, andererseits lag dies an der geringen Wirtschaftlichkeit. Abhandlungen zur TU-134 sind zur Genüge sowohl in Buchform als auch im Internet, zu finden. Allerdings vermag keine das Wesen dieses phantastischen Flugapparats zu vermitteln. Bei keinem anderen Flieger spielt das Klangerlebnis eine solch tragende Rolle wie auf der TU3.
Wie vielleicht schon bekannt, kann man in Russland beinahe an jeder Ecke Flugtickets in sogenannten Aviakassy kaufen. Zu der Zeit, als die TU-134 noch häufig flogen, war zwar bei der einen oder anderen Airline schon Online - Booking verfügbar, die Preise waren aber oft bar günstiger. Auch hatte man etwas in Händen, zur damaligen Zeit vertraute man einem echten „Billet“ (Flugticket) einfach mehr als einem Ausdruck von daheim. Als kleine Randnotiz sei angemerkt, dass auf einigen Flügen mit Rossiya Russian Airlines das Büro in Wien hervorragende Unterstützung leistete. Auch für die exotischsten Inlandsflüge waren Reservierung und Bezahlung von Österreich aus überhaupt kein Problem. Heute hat Rossiya das Büro am Flughafen Wien geschlossen, der Vertrieb übers Internet funktioniert mittlerweile problemlos. Aber Tushkas gibt’s keine mehr bei der Airline, leider!
Bei allen Flügen in Russland macht es Sinn, zeitig am Schalter zu sein, denn Russen checken sehr früh ein. Da bei den vielen TU-134 im Inneren kaum eine der anderen gleicht, ist es schwer den besten Platz zu finden. Als Faustregel kann man sagen, dass die vorletzte Reihe sicher nicht verkehrt ist. Von dort sieht man die ersten Kompressorstufen des Triebwerks, die Landeklappen und den Fahrwerksschacht. Den ganzen Prozess des Einziehens des Fahrwerks kann man ebenfalls bestens begutachten. Kameratechnisch kommt man dort mit einer Standardausrüstung gut über die Runden. Wer aber auf Fisheye steht, der kann gerne in der vorvorletzten Reihe Platz nehmen, mit dem Vorteil, dass er beinahe das gesamte Triebwerk einfangen kann, sowie das Höhenleitwerk und den gesamten Flügel. Dabei besteht aber das Risiko, dass man kein Fenster hat, je nach Version und Bestuhlung. Das ist im Übrigen die einzige wirkliche Schwäche dieses Airliners: manche Reihen haben einfach kein Fenster. Da hilft auch vor und zurücklehnen nichts. Üblicherweise werden solche Sitzwünsche beim Einchecken berücksichtigt. Manchmal hilft es aber auch, ein bisschen „Trinkgeld“ zu geben. Einen Blick auf den Monitor des Check - in- Agents, der die freien Sitze zeigt, gibt es in der Regel nicht. Man sollte interessiert ist Jedenfalls ist es angebracht, durch die eigene Neugier nicht zu sehr aufzufallen.
Nach dem Erhalt der kann man die Zeit noch zum Spotten verwenden, sofern der Flughafen dies architektonisch zulässt. Im Falle von Sankt Petersburg war dies seinerzeit wunderbar von der Rampe am Nordende des Inlandsterminals aus möglich. Heute ist dieser Bereich umgebaut. Wieder gilt die Warnung, dass Anlagen wie Flughäfen, Bahnhöfe oder U-Bahnen nicht fotografiert werden dürfen. Sollte man erwischt werden, kann man einerseits Verständnis für sein Hobby ernten oder richtige Probleme bekommen. sind russische Sicherheitsleute eher unkompliziert. Sollte man am Vorfeld wie ein Irrer herumrennen und wild Fotos machen, so hört sich mit Sicherheit der Spaß auf. Wie auch immer empfiehlt es sich, mehrere Speicherkarten zu verwenden. Sollte man aufgefordert werden, seine Fotos zu löschen, verliert man so nicht gleich alles. Oft überwachen Sicherheitskräfte das Löschen der Bilder. Wenn dann jedes einzeln entfernt und dabei erklärt wird man habe 5.000 Bilder von Fliegern auf dem Fotoapparat, gibt selbst der verbissene FSBler auf (der FSB hieß früher KGB).
Wurden die kleinen Tushkas früher noch oft an Fluggastbrücken angedockt, so wird heute der Einstieg über eine offene Vorfeldposition organisiert. In LED gab es eigens für die TU3 adaptierte Parkpositionen, welche allesamt keine Fluggastbrücken hatten. Die Fahrt mit dem Bus hat den Vorteil, dass man das Flugzeug am Vorfeld aus der Nähe sehen kann. Wie bei allen russischen Fliegern ist auch bei der TU3 die APU sehr laut, was aber egal ist, denn diese ist im Heck. Obgleich die Tupolev für einen Passagierjet relativ wenig Fluggäste fasst, erscheint sie, wenn man vor ihr steht, doch sehr groß.
Mit der TU-134 in die „Stadt des Erzengels“
Im Jahr 2007 setzte Rossiya noch die eine oder andere TU-134 für Flüge aus Sankt Petersburg ein. Alle Modelle waren A-3 Modelle, also mit Glasnase, Radarkinn und großer Küche. Nach Europa durften sie zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr fliegen, eingesetzt wurden sie in Russland auch nur mehr auf den weniger wichtigen Strecken in den hohen Norden. Die Preise für Tickets hielten sich damals mit etwa 150 EUR hin und retour in Grenzen. Das wirklich angenehme war aber, dass man die Flugscheine online reservieren und diese dann am Flughafenbüro in Wien abholen und bezahlen konnte. Die Stadt Arkhangelsk im Norden Russlands war dabei die ideale Strecke für einen „Spaßflug“, da die Tickets günstig waren und die Strecke eine angemessene Flugzeit bot. Sommer war es auch. Das bedeutete, dass es 24 Stunden hell sein würde. Auch war die Chance auf eine TU3 auf dieser Strecke am größten.
Pulkovo Airlines fusionierte zu der Zeit mit der Russian State Transport Air Company. Die Maschinen behielten die Lackierung der jeweiligen Airline zwar bei, wurden jedoch mit dem Schriftzug Rossiya versehen. Die aus Petersburg zum Einsatz kommenden TU-134 waren alle relativ junge Maschinen Erstflüge um 1979 herum. Das Innenleben der Maschinen glich sich nicht. Im Gegenteil, sämtliche Designvarianten waren in der Flotte vertreten. Für jeden Geschmack war etwas dabei.
Pulkovo Airport verfügte damals noch über 2 Terminals, einen für Inlandsflüge und einen für internationale Verbindungen. Die beiden auch heute noch in Verwendung befindlichen Gebäude liegen ca. 10 Autominuten auseinander. Mittlerweile verbindet sie auch ein Linienbus. Nachdem mit den in Wien gekauften Tickets eingecheckt und ein Platz hinten in der Maschine zugewiesen wurde, musste man noch den richtigen Ausgang finden. Das ist trotz des kleinen Gebäudes nicht immer einfach. Die Infrastruktur ist zwar nach dem Zerfall der Sowjetunion gleich geblieben, die Anforderungen sind aber nun andere. Daher ist Pulkovo 1 gezeichnet von Provisorien rund um die Sicherheitskontrollen. Wo man früher nach der Registrazia (Registrierung der Passagier vor dem Check-in) aufs Vorfeld zu seiner IL-86 spazierte, muss man sich heute einer Kontrolle durch einen Ganzkörperscanner unterziehen. Naja, was tut man nicht alles für einen Flug auf der TU-134!
Nach einigen Minuten des Wartens war es dann soweit, der Bus fuhr in Richtung Tushka ab. Beim Einsteigen in den Flieger hielt die Stewardess, wie auf der TU3 üblich, bei jedem Passagier die Hand zwischen Kopf und Türe. Da die Besatzungen der Air Koryo ähnliches machten, liegt der Verdacht nahe, dass es sich hier um ein Tupolev - Procedere handelt. In der Maschine war fotografieren wie immer strengstens verboten. Man wurde relativ rasch auf seinen Platz gewiesen. Die Kabine der Maschine war nicht gerade leise, die Klimaanlage arbeitete auf Hochtouren. Anhand der Kommentare der einsteigenden Passagiere konnte man feststellen, dass es auch für Russen im Jahre 2007 schon etwas exotisch war noch auf so einem alten Flieger zu fliegen.
Nachdem alle Passagiere Platz genommen hatten und das Anschnall- sowie das Nicht- Rauchen- Zeichen aufleuchtete, wurden noch ein paar Gesten und Sätze zur Sicherheit an Bord von der Besatzung zum Besten gegeben. Wobei so recht ernst nahm diesen Teil des Fluges niemand nicht die Passagiere noch weniger die Besatzung. In einem interessanten Gespräch meinte eine Rossiya TU-154 Kabinencrew einmal, dass diese ganzen „amerikanischen“ Sicherheitseinweisungen sowieso umsonst sind. Russen sind nicht so dumm dass sie den Ausgang nicht finden wenn es darauf ankäme. Und unter Gelächter meinten die Mädels, dass zwar die Passagiere in den USA bei einer Bruchlandung die Notausgänge fänden, aber zu fett für diese wären. Wie dem auch sei, auch diese Crew dachte damals, dass sie Ewigkeiten auf ihren Tupolevs frei über Russland fliegen würden. Ein paar Jahre später fliegen sie nun auf Boeings und nach standardisierter Anleitung bei jedem Flug die Sicherheitsanweisungen vor. Die Uhren stehen nun mal nicht still!
An jenem wunderschönen Sommertag schien es, als wäre die Sowjetunion wieder auferstanden: Die Maschine mit ihrem Erstflug im Jahre 1979 könnte ein Lied davon singen. Die Kabine der TU-134A-3 mit der Kennung RA-65759 erstrahlte in klassischem Aeroflot Pastellblau, das Holzimitat glänzte in der Sonne, welche durch die geschlossenen Vorhänge hindurch funkelte. Die Besatzung verteilte noch ein „Karamel“ („Zuckerl“ auf Russisch), und dann wurde es leise. Aus den immer heftigeren Vibrationen im Heck konnte man schließen, dass eines der beiden D-30 Triebwerke gestartet wurde. Dann wurde das Heulen immer lauter, die Vibrationen hingegen weniger. Das erste Triebwerk lief, das zweite folgte wenig später. Nachdem die Klimaanlage wieder zu pfauchen begann, war klar, dass die Tupolev bald abrollen würde. Das typisch metallene Heulen, welches man von rollenden TU-134 kennt, ist in der Kabine nicht unangenehm. Aber irgendwie spürt man einfach das Triebwerk, die Luft wie sie angesaugt und wieder hinausgelassen wird, und den Sprit, der die Umgebung vernebelt. Als die Bremsen geöffnet wurden und die TU-134 die Leistung erhöhte, war dies der Beginn einer wirklich tollen Reise.
Der Take-off bietet ein besonderes Klangerlebnis
Immer wieder, wenn die kleine Tushka langsam wurde, schrien die Triebwerke auf. An der Pistenschwelle angekommen, rollte die Maschine ein und hielt. Das ist der wirklich spannendste Moment des ganzen Fluges. Und dann heulten die beiden D-30 synchron los. Immer lauter werdend spürt man im ganzen Körper, mit welcher Kraft sich die Drehzahl erhöht. Von Airbussen und Boeing gewohnt erwartete man ein baldiges Ende, doch die Solovievs drehten weiter hoch. Erst, als der enorme Lärm in der Kabine in ein dumpfes Grollen überging war klar: mehr geht nicht. Sobald die volle Leistung erreicht war, wurde es wieder recht leise in der Maschine. Dieser Effekt ist typisch für jede der TU-134. Dass dabei außerhalb der Kabine der Lärm unerträglich ist, ist eine andere Geschichte.
Nach einigen Sekunden des dumpfen Grollens wurde die Parkbremse gelöst und die Maschine begann zu beschleunigen. Man sagt ja im Allgemeinen der TU-134 nach, dass sie eher kein Kraftpaket sei. Das stimmte an jenem Sommertag auf gar keinen Fall. Dass die Gute eine Weile brauchte, um in die Luft zu kommen, ist bei heißem Wetter nur logisch. Nach einem rumpelnden Take-off Run erhob sich die Maschine in ihr Element. Die Triebwerke pfiffen nun metallisch, das Fahrwerk wurde eingezogen. Wie es eben bei der kleinen Tupolev üblich ist, wurde die Leistung nach ca. 30 Sekunden reduziert. Die Triebwerke waren nun kaum mehr wahrnehmbar. Das Komfortniveau an Bord der Maschine konnte man mit einem Airbus oder einer Boeing nicht mehr vergleichen, so leise war die gute alte Tuschka, war sie erst einmal in der Luft.
Alle russischen Flieger sind sehr „weich“ gebaut, was bedeutet, dass die Flächen die meisten der durch unruhige Luft auftretenden Stöße absorbieren. Auf der linken Seite zeigte sich wunderschön Sankt Petersburg, üblicherweise ist unter Regenwolken versteckt. An klaren Tagen bekommt man erst ein gesamtes Bild von den Dimensionen des Venedigs des Nordens. Die vor Petersburg im Finnischen Meerbusen liegende Insel Kronstadt konnte man ebenso gut sehen.
Während des Fluges
Das Service der Airline war damals noch vorzüglich und umfasste neben einem kompletten Menü auch eine Vielzahl an Getränken. Wirklich schön ist es, wenn die Besatzung den Servierwagen aufklappt und dann mit dem legendären, metallenen Teekessel durchgeht. Man konnte den Hauch des Luxus spüren, war Fliegen auch in der Sowjetunion nicht etwas Alltägliches. Und definitiv kann man ein solches Erlebnis nicht mehr mit dem vergleichen, was Low- Cost- Airlines heute unter „Fliegen“ verstehen.
In der Luft hatte man die Möglichkeit einigermaßen ungestört durch die Maschine zu wandern. Sie war noch in drei weitere kleine Salone unterteilt, der Durchgang zwischen diesen wurde während des Fluges mit einem Vorhang verschlossen. Hinten befanden sich in der Tupolev auf der einen Seite das WC mit den Dachfenstern und auf der anderen Seite die Garderobe, welche ein Muss auf allen russischen Airlinern war und ist. Dass man dem WC seine lange Dienstzeit ansah, sei hier nur am Rande erwähnt. Will man durch die gerade nach hinten führende Tür, so würde man im Gepäckabteil der Maschine landen. Dies ist aber in der Regel verschlossen. Und zu sehen ist dort sowieso relativ wenig, bis auf eine rote Kugel, welche im Durchmesser zirka 30 cm misst. Das ist der Flugschreiber der Maschine.
Auf Reisehöhe angekommen, bewegte sich das Flugzeug immer weiter nach Norden. Zeit verliert hier oben ihre Bedeutung, vor allem wenn es im Hochsommer hell ist, und im Winter die Finsternis Einzug hält. Unter der Tupolev konnte man die unendlichen Wälder Kareliens sehen sowie den gewaltigen Ladoga und den nicht weniger beeindruckenden Onega See. Während eines Spaziergangs durch die Maschine fielen mir unterschiedliche Fenster auf. Einmal war der Blick durch sie verschwommen, ein anderes Mal konnte man klar durch sie hindurchsehen. Die verschwommenen waren Ersatzteile, die anderen noch immer Teil der Originalmaschine. Wirklich erstaunlich war der gute Zustand der Tupolev. In vielerlei Hinsicht schien die Maschine beinahe neu zu sein.
Nach einer guten Stunde begann der Sinkflug auf Arkhangelsk. Dass man mittlerweile als Westler in den Norden fliegen darf, war nicht immer so. Auch heute noch gehört Arkhangelsk zu einem militärischen Sperrgebiet. Beim Anflug auf den Flughafen wird dies klar. Lange flog die TU-134 in weniger als 500 Metern über Grund flach dahin, bis endlich in den Endanflug eingekurvt wurde. Grund dafür war die Luftraumstruktur, welche wegen eines Marinestützpunktes in der Nähe relativ restriktiv ist für die zivile Luftfahrt. Die erwähnte Basis ist auch nicht irgendeine. Es handelt sich dabei um Severodvinsk, einen Hauptflottenstützpunkt der russischen Marine. Auch die bedeutendste Schiffswerft liegt dort. Stationiert sind dort neben dem Flugzeugträger „Admiral Kuznetsov“ auch U-Boote der Taifun-Klasse. Diese als mächtigste Waffe der Welt geltenden U-Boote haben selbstverständlicherweise unter Wasser, auf dem Wasser und in der Luft darüber höchste Priorität. Und die immer wieder im Weißen Meer zu Versuchszwecken von U-Booten aus gestarteten Interkontinentalraketen will man nicht zwischen herumfliegende Airlinern hindurchschießen.
Die TU-134 zeigte sich bei der Landung von ihrer besten Seite!
Im Endanflug war die Tupolev relativ unspektakulär. Am Gleitpfad stabilisiert sie sank gemächlich Richtung Boden. Offensichtlich reichte aber die verbleibende Geschwindigkeit nicht, so wurde nochmals die Leistung erhöht. Überhaupt landen die TU-134 immer mit ein wenig Schub auf den Triebwerken. Ein für die größere Schwester TU 154 typisches „Ausflairen“ über dem Boden ist weniger üblich. Nachdem das Hauptfahrwerk den Grund berührte, sank die Drehzahl der Triebwerke abrupt ab. Auf der Tragfläche fuhren die Störklappen sehr spät und langsam, aus. Dann drehten die Triebwerke wieder hoch, auf volle Leistung. Die Schubumkehr ist alles andere als leise, sowohl in der Kabine, als auch am Flughafen. Jeder kann im Umfeld des Airports eine Tupolev landen hören.
Beim Zurückrollen hatte man einen guten Blick auf die Wartungshallen der örtlichen Werft. Dort standen neben ein paar Tupolev-Leichen auch noch einige andere, flugfähige Maschinen herum. Die örtliche Airline hieß zu dem Zeitpunkt Aeroflot Nord und war aus der AVL (Arkhangelskie Vosdushnie Linii) hervorgegangen. Das Flaggschiff war die TU-154 B-2, welche in der Aeroflot Grundbemalung am Heck statt der geschwungenen russischen Fahne Eiskristalle abgebildet hatte. Auch die TU-134 und AN-24 der Airline trugen dieses Farbkleid. Nachdem unsere Tupolev am Haltepunkt gestoppt hatte, wurde das Bodengerät an die Maschine herangefahren und die Türen geöffnet. Nach dem Verlassen des Fliegers wurden man vom Bodenpersonal zum Ausgang des Airside Bereichs gelotst. Dieser „Ausgang zur Stadt“ war in Wirklichkeit nicht mehr als eine kleine Tür im Zaun. Russland vermag es immer zu überraschen.
Arkhangelsk, Stadt an der Dvina
Gleich nach diesem kleinen Tor beginnt die Stadt Arkhangelsk. Die Taxifahrer, die einen am liebsten schon aus der im Anflug befindlichen Maschine zerren würden, durften auch hier im Norden nicht fehlen. Sie sind immer darauf erpicht, dass alle Hinweise auf öffentlichen Verkehr in und um den Flughafen entfernt sind. Man kann sich also nur mit Fragen weiterhelfen. Aber auch ein aufmerksames Auge hätte hier den Bus ins Stadtzentrum gefunden, es gab ja nur den einen.
Davor wurde noch die am Airport ausgestellte IL-14 inspiziert. Dieser legendäre Passagierflieger war lange Zeit das Rückgrat Aeroflots auf ihren Regionalverbindungen in Russland. Diese trägt das rote Farbschema der Polarflugeinheit der Aeroflot. Für russische Verhältnisse war die Maschine in sehr gutem Zustand.
Die Stadt selbst war damals etwa so groß wie Graz, mit einem sehr kleinen Einkaufszentrum und vielen kleinen Geschäften. Die Wirtschaft hier ist abhängig vom Wald. - Holz ist , wovon die Menschen hier leben. Auch spielt die Landesverteidigung durch die Nähe zur Marinestadt Severodvinsk eine bedeutende Rolle. Ansonsten gibt es eigentlich nicht viel, außer eben echtem russischem Lebensgefühl.
Die durch Arkhangelsk fließende Dvina bildet an manchen Stellen ausgeprägte, feinkörnige Sandbänke aus. Diese werden im Stadtgebiet gleich als Strand genutzt. Und so wird man als Mitteleuropäer nicht schlecht staunen, wenn man mitten im tiefsten Russland an einem wunderschönen Sandstrand, hoch im Norden, um Mitternacht im Hochsommer bei 27° und Sonnenschein die Eisschollen im Fluss vorbeitreiben sieht. Das ist eben auch Russland, unglaublich schöne und krasse Gegensätze zusammen mit traumhafter Natur.
Die Stadt selbst hat mit Sicherheit sehr viele Kultur-, Bildungs- und Sporteinrichtungen zu bieten. Ist man aber nur eine Nacht dort, so reicht es entlang des Ufers durch die Stadt zu bummeln. Eine wirkliche Sehenswürdigkeit und wohl das Wahrzeichen der Stadt ist die Statue Peter des Großen. Diese ist auf dem 500-Rubel-Schein abgebildet und somit jedem Russen ein Begriff. Die Hotelinfrastruktur war zur Zeit der Reise noch überschaubar. Den billigsten Onlinedeal hatte die örtliche Sowjethinterlassenschaft, die nachvollziehbar auch gleich „Hotel Dvina“ hieß. Nachdem ja der Reisende zu einem ordentlichen Preis-Leistungs-Verhältnis auch noch eine gewisse Stilkomponente schätzt, war der Aufenthalt in der Stadt mehr als lohnend und ein tolles Rahmenprogramm zu einem so wunderbaren Flug auf der TU-134.
Am nächsten Tag ging es vor dem Rückflug noch zu einem anderen Wahrzeichen der Stadt, das mehr oder weniger gleich am Weg zum Flughafen lag. Die ausgestellte MiG-31 dient als Denkmal gegen alle Aggressoren Russlands. Der Zustand der Maschine ist für lokale Verhältnisse nicht schlecht. Errichtet wurde diese im Jahr 1999.
Der Flughafen Arkhangelsk hatte zum damaligen Zeitpunkt zwei Terminals in Betrieb, ein kleineres für internationale Flüge und ein größeres für die innerrussische Strecken. Das neuere von beiden schien das Inlandsterminal zu sein.
Innen glich es einem typisch russischen Provinzflughafen mittlerer Größe. Die örtliche Airline hatte die ehemaligen Aeroflot Büros in Beschlag genommen und einige Ticketbuden waren dazugekommen. Der obligatorische Kiosk und das „Kafe“ sind ebenso unverzichtbar. Das Schönste aber war das offensichtlich neue Mosaik aus Holz, welches an der Stirnwand des Airports hoffentlich auch heute noch Szenen aus „besseren“ Tagen zeigt.
Nachdem die Registrierungen wieder abgeschlossen und die Sitze im hinteren Drittel der Kabine reserviert worden waren, war noch ein bisschen Zeit zum Spazieren. Die ankommende TU-134 für den Rückflug war dabei nicht zu überhören. Der zwischen den beiden Terminals liegende Zaun bot einen guten Blick auf das Vorfeld, wo die Maschinen in der Sonne glänzten. Die einzige internationale Verbindung aus Arkhangelsk war zu diesem Zeitpunkt Tromsö in Norwegen. Geflogen wurde mit AN-24 Turboprops. Diese wurden auch nach Solovki eingesetzt, eine Insel mitten im Weißen Meer. Auf ihr findet man eines der ältesten und bedeutendsten Klöster Nordrusslands. Kein Zweifel besteht darin, dass diese Insel für Natur liebende Kulturfreunde eine Reise wert ist. Früher wurden die geweihten Gemäuer vom KGB als Gefängnis genutzt. Die erstarkende russisch-orthodoxe Kirche aber legt großen Wert darauf, dass alle alten Kirchen ihrer ursprünglichen geweihten Funktion nach verwendet werden.
Nachdem der Bus die Reisenden zur Tushka gebracht hatte, war es Zeit in die Maschine einzusteigen. Diesmal flog RA-65109, eine TU-134A-3 Baujahr 1978, die Strecke nach LED. Das Wetter war perfekt und sollte einen wunderbaren Flug verheißen. Der letzte Blick von der Passagiertreppe auf das Vorfeld bot ein solch wunderbares Bild, dass man es wohl nie wieder vergessen wird können. Die am Vorfeld geparkte TU-154B-2 und TU-134A passten perfekt zu den kleinen Antonovs. Die im Hintergrund anfliegende Tupolev komplettierte den Moment zu einer unvergleichlichen Komposition russischer Luftfahrtgeschichte.
Der Start in Richtung Pulkovo, gut zu sehen ist Arkhangelsk und der Fluss Dvina.
Gleich nach dem Abheben konnte man einen tollen Blick auf die Stadt werfen, im Fluss Dvina waren Unmengen an frisch geschlagenem Holz auszumachen, welches in Arkhangelsk weiterverarbeitet wurde. Der schöne Sandstrand wirkte von oben ganz klein und am Horizont nur die unendliche Weite Russlands. Die Tupolev TU-134 auf diesem Flug war eine Maschine aus den Beständen der Pulkovo Aviation Enterprise. Mit Sicherheit hatte der eine oder andere Spotter sie anno dazumal in Wien gesehen.
Der technische Zustand aller Rossiya TU-134 war, soweit es der Einblick eines Laien zuließ, sehr gut. Da hatten im Vergleich die in der Flotte befindlichen TU-154 offensichtlich ein schwereres Leben hinter sich gebracht und gegenüber den damals neu geleasten B737-500 waren die Tushkas geradezu wie aus dem Ei gepellt. Egal was man anfasste, alles wirkte massiv im Flieger, fast wie für die Ewigkeit gebaut. Und weil der Flieger einer aus der ersten Generation überhaupt ist, findet man wenig Kunststoff. Viel eher griff man damals auf handgeformte Alubleche zurück.
Wird LED aus Norden kommend in Richtung Norden angeflogen, so passiert man anfangs die Stadt östlich, dreht dann in eine Rechtskurve ein und findet das Zentrum links von der Maschine. Das Schöne dabei ist, dass man entlang der Südküste des Finnischen Meerbusens fliegt, und einen hervorragenden Blick auf Peterhof bekommt. Dies ist ein einstiges Zarenpalais und mit seinen vielen Springbrunnen Pflichtpunkt einer jeden Stadtbesichtigung. Bekommt man auch noch das Anwesen von der Luft aus vor die Linse, sind das Erlebnis und der Eindruck perfekt! Je näher die Tushka dem Flughafen kam, desto öfter wurde die Leistung an den beiden Triebwerken wieder hochgefahren.
Nach einem beeindruckenden Landeanflug setzte die kleine Tushka recht heftig in Pulkovo auf.
Zwar sehr sanft, aber nicht gerade langsam, überflog die Maschine die Pistenschwelle, um dann sehr hart aufzusetzen. Und wenn es schon mal holpriger zugeht, dann gilt immer noch: „every landing you can walk away from is a good lading“. Überhaupt, wenn es den Flieger schon in den letzten Metern auf die Piste klatscht, dann lieber in einem fliegenden Panzer aus dem Hause Tupolev!
Die aufheulende Schubumkehr zeugte von der Ankunft der Maschine in Leningrad. Eine wunderbare Flugsafari war zu ihrem Ende gekommen. Schon 2008 zeichnete sich ein Ende der kleinen Tupolev in der Flotte von Rossiya ab. Dass sie aber so schnell verschwinden würden, dachten nicht einmal die Besatzungen der Maschinen selbst.
Abstecher nach Kaliningrad
Weil man ja die Gelegenheiten, die sich einem bieten, nutzen sollte, kann man bei einem Flug auf einer TU-134 nach Kaliningrad nicht nein sagen. Damals waren noch einige der kleinen Tushkas von UT Air in LED stationiert, diese flogen in den Norden, fallweise nach Moskau und auch nach Kaliningrad. Die Maschinen rotierten dabei immer wieder, manchmal flog auch die einzige B-3 Version der Airline. Meistens aber waren es A Modelle mit Glasnase und Radarkinn.
Kaliningrad war kurz nach Sowjetzeiten ein bedeutender russischer Flughafen, mit KD Avia als Homecarrier. Das Konzept der Airline war einfach: von Europa aus billige Umsteigeverbindungen in die ehemalige UdSSR anbieten. Auf diese Idee war zuvor schon Air Baltic gekommen. Der Airport, der offensichtlich der Airline gehörte, wurde speziell zu diesem Zwecke ausgebaut. Dass das Konzept nicht aufging, war spätestens mit dem Lizenzentzug der Airline durch die russischen Behörden klar. Geflogen wurde mit alten B737 Classics. Die wenigen Tupolevs im Bestand der Airline waren gleich nach dem Eintreffen der Boeings abgestellt worden. Wie es aber in der Branche offensichtlich Usus ist, fliegen alle dorthin, wo andere hinfliegen und ruinieren sich dabei gegenseitig. So eben auch nach Kaliningrad.
Heute sind Tickets in die Exklave subventioniert, damals aber waren sie bedeutend billiger. Alleine aus LED flogen KD Avia, UT Air (UT) und Rossiya nach KGD (Kaliningrad). Somit konnte man für wohlfeile 100 EUR hin und retour fliegen. Heute geht das nicht mehr! Und weil man als Aviatiker auf seinen fliegenden Untersatz achtet, war die Airline der Wahl UT, da diese eben die kleine Tushka im Angebot hatte. Der gesamte Prozess rund um Check-in, Sicherheitskontrollen und so weiter ist ja mittlerweile hinlänglich bekannt. Abgeflogen wurde aus Pulkovo 1, also mittlerweile auch nichts wirklich Neues. Interessant aber war die Maschine selbst, welche an jenem Morgen flog. RA-65055 wurde im Rahmen einer Modernisierung einmal entkernt und dann, zumindest in der Kabine, komplett neu eingerichtet. Entfernt wurden dabei alle Salontrennwände, dazu wurden die Sitze neu bezogen. Der Rest war weiter klassische TU3 Baujahr 1977.
UT Air bot neben einem unschlagbaren Preis hervorragenden Service an. Das an Bord servierte Essen konnte sich für einen so kurzen Flug sehen lassen. Auch waren die Besatzungen an Bord immer sehr freundlich und nett. UT ist eine der besten Airlines überhaupt in Russland. Mit ihrer sehr konservativen Flottenstrategie scheint die Airline wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Doch auch bei UT fliegen immer weniger russische Airliner.
Kaliningrad, einstmals Königsberg, ist eine russische Exklave und daher sehr abhängig von funktionierenden Luftverbindungen. Diese gibt es nach wie vor zur Genüge, der Airport ist ebenso gut ausgerüstet und ausgebaut. Kaliningrad ist heute sehr stark von der kasachischen Diaspora geprägt, viele ethnische Russen wurden nach der Unabhängigkeit aus Zentralasien vertrieben und fanden im äußersten Westen der Russischen Föderation ein neues Daheim. Bis heute ist die Gegend geprägt von ihrer deutschen Geschichte. Zugewanderte Russen verschweigen nicht, dass die Häuser der Deutschen bis heute stehen, während russische schon nach wenigen Jahren auseinanderbrechen. Und wieder schließt sich ein Kreis in der Geschichte, haben doch viele der aus Kasachstan ausgewanderten ethnischen Russen deutsches Blut in ihren Familien oder aber sind katholischen Glaubens.
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Zwar ist während der vielen Kriege, die dieses Land gesehen hat, sehr viel an Substanz verloren gegangen, doch eine gewisse Nähe zu der Gegend wird man als Österreicher dennoch verspüren. Vieles scheint wie daheim zu sein, was man von Kernrussland nicht behaupten kann. Kaliningrad ist heute eine der reicheren Regionen Russlands. Bekannt ist es auch für seine reichen Bernsteinvorkommen und das davon profitierende Kunsthandwerk. Auch für diese Region Russlands gilt, dass sie absolut sehenswert ist, und vor allem einen historisch interessanten Kontrast zu Moskau und Petersburg bietet. Hin und wieder kann man die eine oder andere Spur des bekanntesten Sohnes der Stadt finden. Und wer wandert nicht gerne auf den einstigen Pfaden Immanuel Kants?
Wie schon beim Hinflug stand auch beim Rückflug wieder eine TU-134A am Programm. Und ja, es stellt sich ein gewisses „Suchtverhalten“ ein, wenn man einmal auf diesem Jet fliegen durfte. Je öfter man mit russischen Fliegern fliegt, desto erwartungsvoller begegnet man dem bevorstehenden Erlebnis. Wenn man es schafft, trotz der Aufregung und der schönen Eindrücke ein bisschen abzuschalten und sich der Situation bewusst zu werden, dann ist das ein erhebendes Gefühl. Hoch oben in einer TU-134, mit ihren charakteristischen Flächen und dem Blick auf das Triebwerk, ist beispielsweise ein Sonnenaufgang schon etwas sehr Schönes.
Der Take-off im Morgengrauen, aus dem vorderen Kabinendrittel aufgenommen
Der Rückflug fand auf RA-65565 statt, einer TU-134AK mit Baujahr 1983. Einstmals war sie in volkseigenem Besitz und Flog als DDR-SDT für das TG-44, besser bekannt als die „Regierungsstaffel der DDR“. Diese Maschine weist eine sehr interessante Geschichte auf, wurde sie doch nach gravierenden technischen Mängeln von der DDR an die Sowjetunion retourniert. 50% der Schraubbolzen im Flügel fehlten und wurden nie in die Maschine eingebaut! Trotz mehrjährigen Einsatzes in einem solchen Zustand konnten aber keinerlei strukturelle Beschädigungen festgestellt werden. Gut, dass man so etwas erst nach seinem Flug liest.
Auch sie hatte bereits ein „Lifting“ hinter sich, mit einer sehr modern wirkenden Kabine. Und nach einigen Flügen gewöhnt man sich auch an die Hutablagen. Ganz im Gegenteil, man beginnt diese zu schätzen, bieten sie doch wesentlich mehr Platz als die verschließbaren Gepäcksfächer. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass man sich auch auf diesem Flug wie in einer Zeitmaschine fühlte.
Anflug und Landung in Pulkovo
Fakt ist, dass die TU-134 heute ein lebendes Fossil darstellt, ein Jet aus der Ära der Caravelle und der Comet. Wem das besondere Erlebnis eines Fluges auf diesem „donnernden Engel“ noch nicht zuteilwurde, dem sei ein Flug auf der TU-134 nahegelegt. Viele von ihnen gibt es nicht mehr und sie werden täglich weniger. Bis sie irgendwann nur mehr in unseren Erinnerungen durch den Himmel donnern!
Und wer Lust auf mehr bekommen hat, der kann auf Austrian Wings demnächst wieder einchecken. In der Serie „Fliegen in Russland“ geht es an Bord der Yak-42 von Moskau aus an die Wolga und die Neva.
Text, Fotos und Videos: Roman Maierhofer