Ursprünglich hätte der Flug ALW 301 mit einer Boeing 767-200 der Birgenair-Schwestergesellschaft Alas Nacionales von Puerto Plata über Gander nach Frankfurt führen sollen. Weil die für den Flug geplante Boeing 767 jedoch aufgrund eines technischen Defektes nicht zur Verfügung stand, wurde kurzerhand auf eine seit mehreren Wochen auf dem Flughafen von Puerto Plata abgestellte Boeing 757-225 (TC-GEN, Baujahr 1985) der Birgenair zurück gegriffen.
Die dafür erforderliche Cockpit Besatzung wurde unvermittelt aus einem Hotel geholt und in Dienst gestellt. Kommandant der Maschine war der 62-jährige Ahmet Erdem, der mit 24.750 Flugstunden als besonders erfahren galt. Er hatte in seiner langen Laufbahn bereits die Muster Viscount 794 DC-9, B707, B727, DC-8, B757-200, B-767-200 und B737-300 geflogen.
Auf dem Sitz des Co-Piloten nahm der Erste Offizier Aykut Gergin (34) Platz, der 3.500 Stunden im Flugbuch stehen hatte. Gergin konnte Einsätze auf den Typen CE-500, AN-24, ATR 12, A320, B757/767 und A300 nachweisen.
Zusätzlich flog noch Muhlis Evrenesoğlu (51) auf dem Jump Seat mit. Sein Logbuch verzeichnete 15.000 Flugstunden auf den Mustern Mustern C-47, C-160. PA-23, B727, DC-9, B737-4O0, A310, A300-B-4 und B757/767, wobei generell angemerkt werden muss, dass Erfahrung alleine nicht unbedingt etwas über die Qualität eines Piloten aussagt. Mindestens ebenso wichtig sind andere Faktoren wie soziale Kompetenz oder Fertigkeiten im Bereich CRM.
Die Sicherheit bei türkischen Airlines ist zum Teil heute noch stark verbesserungsbedürftig und der diesbezügliche Status quo im Jahr 1996 war dementsprechend auf einem noch niedrigeren Level angesiedelt. Die Kabinenbesatzung der Unglücksfluges bestand aus 11 türkischen und 2 dominikanischen Flugbegleitern.
In der Kabine nahmen die 176 Passagiere mit mehr als vierstündiger Verspätung Platz - neben 167 Deutschen befanden sich neun Polen an Bord, darunter die beiden Parlamentsmitglieder Zbigniew Gorzelańczyk und Marek Wielgus. Die deutschen Gäste hatten den Flug im Rahmen einer Pauschalreise über den Reiseveranstalter Öger Tours gebucht, an dem Birgenair wiederum mit 10 Prozent beteiligt war.
Um 23:42 Lokalzeit setzte sich die Maschine schließlich auf der Piste in Bewegung, wobei die Piloten bei 80 Knoten "eighty" ausriefen, um zu überprüfen, ob alle drei Geschwindigkeitsmesser im Cockpit synchron arbeiteten. Und hier traf Kommandant Erdem eine verhängnisvolle Entscheidung, die wenige Minuten später den Tod von 189 Menschen bedeuten sollte.
Obwohl Kapitän Erdem bemerkte, dass sein Geschwindigkeitsmesser nicht arbeitete, entschied er sich dafür, den Start fortzusetzen, obwohl Zeit genug für einen Startabbruch gewesen wäre: "Funktioniert Ihrer?", fragte er in Richtung seines Ersten Offiziers. "Jawohl", antwortete Co-Pilot Gergin.
Kurz nach dem Start zeigte das Instrument des Kapitäns dann plötzlich wieder - scheinbar richtige, tatsächlich jedoch falsche - Werte an, doch in einer Höhe von rund 4.700 Fuß schien auf Erdems Speed Indicator die (falsche) Anzeige 350 Knoten auf, während das Standby-Instrument und der Geschwindigkeitsmesser auf der Co-Pilotenseite korrekte 200 Knoten anzeigte. Doch eine gründliche Ursachenanalyse dieser divergierenden Anzeigen durch die Crew unterblieb, zumal die Piloten jetzt auch noch durch zwei irritierende Fehlermeldungen abgelenkt wurde. Auf einem der beiden EICAS-Monitore zwischen den Piloten schienen die Anzeigen "Rudder Ratio" und "Mach Speed Trim" auf, die keinerlei Rückschlüsse auf das tatsächliche Problem zuließen.
Weil der aktivierte Autopilot seine Geschwindigkeitsinformationen vom defekten System des Kapitäns erhielt, ertönte nun die "Overspeed"-Warnung im Cockpit. In weiterer Folge wurden der Anstellwinkel des Flugzeuges vergrößert und der Schub reduziert, um die vermeintlich zu hohe Geschwindigkeit abzubauen. Doch obwohl jedem qualifizierten Piloten allein aufgrund der Kombination von gesetzter Schubleistung und vorhandenem Anstellwinkel, der über den künstlichen Horizont eindeutig ersichtlich war, klar sein hätte müssen, dass die "Overspeed"-Warnung ein Fehler sein musste, taten die drei Männer im Cockpit weiterhin nichts, um das wahre Problem zu erkennen und zu kompensieren.
Nur zehn Sekunden später aktivierte sich der "Stickshaker", der die Crew vor einem bevorstehendem Strömungsabriss (Stall) warnte. Jeder Pilot wird in seiner Ausbildung darauf trainiert, auf so eine Warnung ohne jede Zeitverzögerung mit Absenken der Flugzeugnase und Erhöhen des Schubs zu reagieren, doch nichts davon tat die Crew im Cockpit der Boeing 757 im ersten Moment.
Die Unfallermittler sollten dazu später in ihrem Abschlussbericht lapidar anmerken: "Das Flugzeug befand sich im stabilen Flugzustand und wäre vollständig steuerbar gewesen, wenn der Längsneigungswinkel verringert worden wäre."
Die Aufzeichnungen des CVR lassen zwar den Schluss zu, dass sowohl der dritte Mann im Cockpit als auch der Erste Offizier die Brisanz der Situation endlich erkannten, doch verabsäumten sie es, ihren Kapitän mit der in diesem Moment gebotenen Deutlichketit darauf hinzuweisen. Derartige Verhaltensmuster wurden nach Unfällen um islamisch geprägten und asiatischen Raum oft von Unfallermittlern beobachtet und sind auf die dort häufig vorherrschende Mentalität und Sozialisierung der Menschen zurückzuführen. In den vergangenen Jahren wurde in diesen Ländern deshalb zwar viel getan, um dieses Problems Herr zu werden, dennoch besteht weiterhin dringender Handlungsbedarf, wie nicht zuletzt der Absturz von AirAsia 8501, ein schwerer Zwischenfall auf einem Turkish Airlines Flug vom Jänner dieses Jahres, ein Landeunfall eines Turkish Airlines A330 in Kathmandu oder der Landeunfall einer Turkish 737-800 mit sechs Toten in Amsterdam im Jahr 2009 auf dramatische Art und Weise belegen.
Zu späte Reaktion des Kommandanten
Als Kapitän Erdem schließlich doch noch die Nase seines Flugzeuges mittels dem Steuerhorn nach unten zu drücken (was ihm jedoch durch die vom Autopiloten auf "Nose up" gestellte Trimmung der Höhenflosse nicht gelang) und den Schub erhöhte, war es zu spät - das linke Triebwerk hatte einen Kompressor-Stall, woraufhin sich die Boeing 757 auf den Rücken drehte und acht Sekunden später ins Meer stürzte. Bis zum Ende der Aufzeichnung realisierte die völlig konfuse Crew nicht, was eigentlich geschah. Es gab keine Überlebenden.
Die Ermittlungen
Die Unfalluntersuchung wurde von der Direccion General de Aeronautica Civil geleitet, unterstützt von der NTSB, da die abgestürzte Maschine ein US-amerikanisches Muster war. Im Rahmen der Ermittlungen wurde festgestellt, dass vermutlich eines der Pitot-Rohre, von denen die Instrumente und Systeme wichtige Staudruck-Daten für die Ermittlung der Geschwindigkeit beziehen, verstopft war - möglicherweise durch Schmutz oder Insektennester. Möglich war dies, weil die Pitot-Sonden entgegen weltweit üblichen Gepflogenheiten während der wochenlangen Standzeit der Maschine offenbar nicht abgedeckt worden waren, ein weiteres Versäumnis, das Birgenair anzulasten war.
Obwohl auch der Flugzeughersteller Boeing für die irreführenden und für die Crew nicht in einen sinnhaften Zusammenhang zu bringenden Warnungen kritisiert wurde, lag die Hauptschuld für den Absturz auch nach Ansicht der Ermittler eindeutig beim Versagen der Crew. So heißt es im Abschlussbericht wörtlich zum schlussendlichen Grund des Unfalles:
"The crew's failure to recognize the activation of the stick shaker as a warning of imminent entrance to the stall, and the failure of the crew to execute the procedures for recovery from the onset of loss of control."
Kritisiert wurde aber auch Kapitän Erdems Entscheidung, den Start angesichts der abweichenden Geschwindigkeitsanzeigen überhaupt fortzusetzen. Bei Qualitätsfluglinien mit hoher Sicherheitskultur wäre ein derartiges Vorgehen nach den Recherchen des Autos ein absolutes "No go" gewesen.
Weiters heißt es in dem Abschlussbericht: "Abgesehen davon, daß sich das Flugzeug bis zu dem Unglücksflug während eines Zeitraumes von zwanzig (20) Tagen am Boden befand und nicht geflogen wurde, wurde es auch ohne die in den Wartungsanweisungen des Herstellers empfohlene Überprüfung des statischen Drucksystems wieder im Flugbetrieb eingesetzt. Wäre diese Überprüfung am Boden im Rahmen der Wiederaufnahme des Flugbetriebs durchgeführt worden, wäre das ausgefallene Pitotrohr entdeckt worden und hätte vor Beginn des Fluges repariert werden können. Die Untersuchungskommission ist zu dem Schluß gekommen, daß der Ausfall des Pitotrohrs nicht die wahrscheinliche Ursache für den Absturz war, aber dennoch ein Faktor, der dazu beigetragen hat."
Scharfe Kritik an inkompetenter Crew
Zur Qualifikation der Crew fanden die Ermittler ebenfalls ganz deutliche Worte: "Die Umstände dieses Unglücks deuten darauf hin, daß zwar in die externe Schulung der Flugbesatzung investiert wurde, die auch den erforderlichen Anforderungen entsprach, daß die Schulungsmaßnahmen von der Flugbesatzung jedoch nicht wie gewünscht oder erwartet umgesetzt wurden. Die Flugbesatzungsmitglieder wurden in ,,Rekordzeit`` ausgebildet, verfügten jedoch weder über ausreichende grundlegende Fliegerische Fähigkeiten noch über Kenntnisse zu den Flugzeugsystemen, zu Vorgehensweise und Disziplin, um anhand der Fluggeschwindigkeitsanzeige (pilot flying) oder des Autopilot-Systems zuverlässige Geschwindigkeitsdaten zu erhalten und zu überprüfen.Die Flugbesatzung berücksichtigte weder den Abschnitt ,,Flug mit unzuverlässiger Geschwindigkeitsanzeige`` im Betriebshandbuch der B-757, noch war sie in der Lage, den Übergang in den überzogenen Flugzustand zu erkennen und diesem entgegenzusteuern. Desweiteren herrschte völlige Unkenntnis über das Strategie- und Verhaltenskonzept (Crew Resource Management) zur Bewältigung von außergewöhnlichem Situationen im Fluge."
Der Absturz löste deshalb in Deutschland und Europa auch eine grundsätzliche Debatte über die Sicherheit von (Billig-) Fluglinien und Airlines aus. Man stellte sich die Frage, wie es um die Sicherheit denn überhaupt bestellt sein konnte, wenn man einen Flug von Deutschland in die Karibik + zwei Wochen Hotel um einen Preis bekommen konnte, um den ein paar Jahre zuvor noch nicht einmal ein innereuropäischer Flug erhältlich war.
Birgenair und Alas Nacionales
Auch von Birgenair gab es nach dem Crash kaum Unterstützung für die Angehörigen und Freunde der Opfer, so die häufig gehörte Kritik, , zumal die Airline den Absturz wirtschaftlich nicht überlegte und noch im gleichen Jahr Konkurs anmelden musste - ebenso wie die Schwestergesellschaft Alas Nacionales.
Opfer und Gedenken
Der Großteil des Wracks und die meisten Opfer liegen noch heute, 20 Jahre nach dem Unglück, auf in 2.000 Metern Tiefe dem Grund des Meeres vor Puerto Plata, da nur wenige für die Ursachenforschung wichtige Trümmer und Flugzeugteile, wie etwa der CVR, und 73 Leichen geborgen werden konnten. Die Arbeiten waren außerdem schwierig und gefährlich, zum einen wegen der schlechten technischen Ausrüstung der dominikanischen Behörden zum anderen wegen der zahlreichen Haie im Unglücksgebiet. Angehörige kritisierten diesen Umstand wiederholt, zumal zwei Jahre nach der Katastrophe wurden auf einer Müllhalde in Puerto Plata zwischen den Wrackteilen, neben verfaulten Reisetaschen, sogar Leichenteile entdeckt worden waren. Sowohl in Frankfurt als auch in Puerto Plata wurden Gedenksteine für die Insassen des Unglücksfluges ALW 301 errichtet. Zumindest in Deutschland finden seit jenem dramatischen Tag im Februar vor 20 Jahren ein Treffen jener Menschen statt, deren Angehörige und Freunde so jäh aus dem Leben gerissen wurden, weil drei auf dem Papier voll qualifizierte Flugzeugführer völlig inadäquat auf die aufgetretenen Probleme reagiert hatten.
(red HP / Titelbild: Die Unglücksmaschine rund ein halbes Jahr vor dem Absturz, aufgenommen auf dem Flughafen Berlin Schönefeld - Foto: Lutz Schönfeld - www.planeboys.de via Wikipedia)