Seit dem 16. Juli 1973 war in Hamburg, genauer gesagt auf dem Gelände des Bundeswehrkrankenhauses, ein Bell UH-1D der Bundeswehr für den Einsatz in der zivilen Luftrettung stationiert. Die Einführung der Luftrettung in der Hansestadt ging auf den damaligen Innensenator Helmut Schmidt zurück, den die Leistungen der Bundeswehr-Piloten bei der Sturmflut 1962 derart beeindruckt hatten, dass er es sich zur Aufgabe gemacht hatte, dauerhaft einen Rettungshubschrauber in Hamburg zu installieren. Zunächst unter dem Rufnamen "Florian Hamburg Rettungshubschrauber" bekannt, wurde das Callsign der Maschine später auf SAR 71 geändert. Nicht zuletzt durch die ZDF-Serie "Die Rettungsflieger" erlangte dieser Notarzthubschrauber auch international eine gewisse Bekanntheit. Flog der Helikopter im ersten Betriebsjahr gerade einmal 144 Einsätze, so waren es im Jahr 2000 schon 2.009. Alle Missionen gingen unfallfrei über die Bühne - bis zu jenem schicksalhaften 14. März 2002.
An diesem Donnerstagmorgen traten Pilot Hauptmann Dieter Sparding (42, verheiratet, Vater von zwei Kindern), Bordtechniker Hauptfeldwebel Dirk von Soosten (32) - beide vom LTG 63 -, der zivile Notarzt Dr. Claus Gottschall (verheiratet, Vater eines einjährigen Kindes) und Rettungsassistent Oberbootsmann Michael Kozieraz (34) ihren Dienst an. Ergänzt wurde die Stammbesatzung durch eine 28-jährige Ärztin im Praktikum, Leutnant Karen Hägele, die ihre Notarztausbildung beinahe abgeschlossen hatte.
Rund zwei Stunden nach Dienstbeginn erfolgte gegen 09:15 Uhr die erste Alarmierung des Tages über die Feuerwehr-Leitstelle Hamburg: Verkehrsunfall! Nach dem Start nahm der Bell UH-1D mit der Kennung 71+76 Kurs Nordwest. Die Maschine hatte zu diesem Zeitpunkt rund 7.000 Flugstunden absolviert.
Doch nach nur zwei Minuten Flugzeit stornierte die Rettungsleitstelle den Einsatz, SAR 71 war in der Folge "frei über Funk" und sollte zum Stützpunkt zurückkehren. Routine, wie sie mehrmals wöchentlich vorkam.
Hauptmann Sparding wollte wohl eine besonders "schneidige" Umkehrkurve einleiten, bei der er die Betriebsgrenzen des UH-1D deutlich überschritt. Das riskante Flugmanöver wurde auch von Zeugen am Boden beobachtet. Der UH-1D ging in einen nahezu vertikalen Steigflug über, wobei die Fluggeschwindigkeit gegen 0 km/h absank. Bei dem sich anschließenden Sturzflug kam es zu einem Einschlag der Hauptrotorblätter in Teile der Luftfahrzeugzelle - ein so genanntes Mast Bumping, das beinahe immer tödlich endet. Sekundenbruchteile später löste sich der Hauptrotor vom Rumpf - SAR 71 war spätestens ab diesem Zeitpunkt rettungslos verloren.
Aus rund 150 Metern Höhe fiel der Helikopter nun wie ein Stein vom Himmel, schlug mit einem dumpfen Knall auf einer Wiese in einem Kleingartenverein auf. Auslaufendes Kerosin verwandelte den Absturzort prompt in ein flammendes Inferno. Beherzte Zeugen versuchten noch, der Crew zu helfen, konnten jedoch aufgrund des Feuers nicht an das Wrack herankommen. Die fünfköpfige Besatzung von SAR 71 hatte keine Überlebenschance und war vermutlich bereits durch den Aufprall getötet worden.
Unmittelbar nach dem Absturz gingen bei der Feuerwehr mehrere Notrufe ein - Löschmannschaften, Notärzte und Rettungswägen wurden an die Unglücksstelle entsendet. Doch schon bald war für die Helfer klar, dass es für ihre Kollegen an Bord des Helikopters, mit denen sie bei unzähligen Einsätzen kameradschaftlich zusammengearbeitet hatten, keine Hoffnung mehr gab. Dass am Boden niemand zu Schaden gekommen war, grenzte an ein Wunder: Der Hauptrotor mit seinen 15 Meter Durchmesser hatte einen Pkw getroffen, in dem sich glücklicherweise zu diesem Zeitpunkt niemand befunden hatte. Und rund um die Absturzstelle standen mehrere Häuser, die ebenfalls wie durch ein Wunder verschont geblieben waren.
Die Hamburger Bürger waren über den Absturz "ihres" Rettungshubschraubers tief betroffen und die Frage nach dem "Warum" stand von Anfang an im Raum. Innensenator Ronald Schill stellte sich kurz nach dem Unglück am Ort des Geschehens den Medien: "Es ist besonders tragisch, weil es sich bei diesem Hubschrauber um ein Fluggerät handelt, mit dessen Einsätzen in den vergangenen Jahrzehnten tausende Menschenleben gerettet wurden." Ähnlich äußerten sich auch der damalige Bürgermeister Ole von Beust (CDU) und SPD-Chef Olaf Scholz.
Am 20. März, fünf Tage nach der Katastrophe, nahmen in Hohn bei Rendsburg in einem Hangar des LTG 63 rund 600 Menschen, darunter auch die meisten Angehörigen der Opfer und die komplett angetretenen Mitarbeiter des Geschwaders, von den fünf toten Fliegern Abschied. Und am nächsten Tag fanden sich hunderte Bürger und Vertreter von Rettungsdiensten sowie Politik im Hamburger "Michel" ein, um der getöteten Crew zu gedenken.
Suche nach der Ursache
Rund zwei Stunden nach dem Absturz begannen Ermittler der Bundeswehr an der zum militärischen Sperrgebiet erklärten Unfallstelle mit der Suche nach der Ursache. Doch trotz aller Akribie ließen sich auch in den kommenden Tagen keinerlei Anzeichen für ein technisches Problem an dem verunglückten Hubschrauber finden, und so rückte ein Pilotenfehler immer mehr in den Fokus der Ermittlungen, zumal mehrere Zeugen "außergewöhnliche Flugmanöver" vor dem Crash beobachtet haben wollen. Ein damals Neunjähriger: "Der Hubschrauber hat einen Looping gemacht". Die Zeugin Kimberly Borchert schilderte das Drama gegenüber der Tageszeitung "Welt" mit den Worten: "Ich habe aus dem Fenster meines Zimmers gesehen wie der Hubschrauber plötzlich steil nach oben ging, dann hat er sich nach hinten weggedreht, ein Teil ist abgeflogen und er ist nach unten gefallen." Und ein älterer Mann erklärte, dass ihm aufgefallen sei, dass sich der Rotor "gelöst hat", danach sei der Helikopter senkrecht abgestürzt.
Pilot und Bordtechniker waren betrunken
Alles deutete also in Richtung eines Pilotenfehlers, doch die Bundeswehr mauerte zunächst massiv, zudem sowohl der Luftfahrzeugführer als auch der Bordtechniker als äußerst erfahren galten. Pilot Hauptmann Sparding hatte bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt 3.503 Flugstunden, absolviert, davon 2.755 auf dem Muster UH-1D, wie die deutsche Bundeswehr auf Austrian-Wings-Anfrage mitteilte.
Eine Woche nach dem Absturz ließ allerdings Oberstaatsanwalt Rüdiger Bagger dann die sprichwörtliche Bombe platzen: Bei der Obduktion des Piloten seien 1,5 Promille Alkohol im Blut festgestellt worden, der Bordtechniker habe 1,2 Promille Alkohol im Blut gehabt, hieß es. Bagger: "Bereits bei 1,1 Promille ist absolute Fahr- und Fluguntüchtigkeit gegeben". Denn schon ab 0,3 Promille lassen Aufmerksamkeit, Konzentration, Kritik-/Urteilsfähigkeit sowie das Reaktionsvermögen deutlich nach und ab 0,8 Promille ist das Sichtfeld deutlich eingeschränkt, es kommt zu Gleichgewichtsstörungen, Enthemmung und Selbstüberschätzung. Spätestens ab 1,0 Promille ist die Sprache verwaschen ("lallen").
Der Bundeswehr schmeckte diese Erkenntnis freilich überhaupt nicht, stand doch ihr guter Ruf auf dem Spiel. Generalleutnant Gerhard Back erklärte in einem verzweifelten Verteidigungsversuch, dass Pilot und Bordtechniker "sicher keinen Alkohol vor dem Einsatz" getrunken hätten, es könne sich daher "nur um Restalkohol" gehandelt haben. Doch das machte die Sache keinesfalls besser, denn grundsätzlich galt und gilt, dass Besatzungen von Luftfahrzeugen zwölf Stunden vor Dienstantritt keinen Alkohol konsumieren dürfen und während ihres Dienstes 0,0 Promille haben müssen. Dienstbeginn am 14. März 2002 war gegen 7 Uhr Früh.
Geht man hypothetisch davon aus, dass der Pilot Hauptmann Dieter Sparding und der Bordtechniker Hauptfeldwebel Dirk von Soosten seit 19 Uhr des Vorabends keinen Alkohol mehr zu sich genommen haben (wie es Vorschrift war), müssten sie am Vorabend um 19 Uhr 3,9 (Pilot) beziehungsweise 3,7 Promille (Bordtechniker) Alkohol im Blut gehabt haben - denn pro Stunde baut ein gesunder Erwachsener etwa 0,2 Promille ab. Derart hohe Werte bedeuten bereits Lebensgefahr, wenn man nicht ein daran gewöhnter schwerer Alkoholiker ist. Aber selbst wenn man "wohlwollend" unterstellt, dass die beiden Männer vielleicht stattdessen bis um ein Uhr Früh auf Zechtour waren und lediglich die letzten sechs Stunden vor dem Dienstantritt keinen Alkohol mehr zu sich genommen haben, würde dies bedeuten, dass sie zuvor einen Höchstwert von 2,7 (Pilot) beziehungsweise 2,5 Promille Alkohol gehabt hätten. Die einzige andere Möglichkeit, die hohen Werte zum Zeitpunkt des Unfalles zu erklären, wäre, dass sie eben doch in der Früh vor oder unmittelbar nach Dienstbeginn Alkohol in nicht unerheblicher Menge konsumiert hatten.
Aber wie auch immer: Dass Hauptmann Sparding und Hauptfeldwebel von Soosten um 7 Uhr in der Früh trotz ihrer starken Alkoholisierung auf ihre drei Kollegen (darunter immerhin zwei Mediziner!) offenbar unauffällig und nüchtern gewirkt haben (anderenfalls hätte sich die Besatzung vermutlich geweigert mit den beiden zu fliegen), lässt sich nach Ansicht erfahrener Ärzte eigentlich nur damit erklären, dass ihre Körper die regelmäßige Aufnahmen großer Mengen Alkohol offenbar gewöhnt waren. Denn auch bei der Auswertung des Sprechfunkverkehrs zwischen SAR 71 und den Bodenstellen waren keinerlei Auffälligkeiten in der Stimme der Männer erkennbar. Auf Anfrage von Austrian Wings, ob es im Kameradenkreis irgendwelche Anzeichen für ein Alkoholproblem des Piloten oder des Bordtechnikers gegeben habe, antwortete ein Bundeswehrsprecher knapp: "Dazu sind keine Angaben möglich."
Generell aber, so unterstrich der Sprecher, erfolge bei "Verdacht auf Alkohol- oder Drogenmissbrauch der sofortige Entzug der Tauglichkeit". Und weiter: "Die Wiedererlangung der Tauglichkeit erfolgt erst, wenn der Verdacht zweifelsfrei ausgeräumt wurde beziehungsweise unterliegt bei Bestätigung des Verdachtes strengen Auflagen mit langfristigem Nachweis der Abstinenz und erfolgreich durchgeführter Therapie. Es werden jährliche Untersuchungen auf Wehrfliegerverwendungsfähigkeit durchgeführt inklusive laborchemischer und klinischer Untersuchung. Im Falle der Nachsorge werden diese Abstände deutlich verkürzt. Die kontinuierliche fliegerärztliche Betreuung der Luftfahrzeugbesatzungen in Begutachtung und Therapie ist bedeutsam für das frühzeitige Erkennen von gesundheitlichen Fehlentwicklungen und die Aufrechterhaltung der Flugtauglichkeit. Die Aufmerksamkeit und das Bewusstsein der Fliegerärzte in den fliegenden Verbänden der Bundeswehr, aber auch der begutachtenden Flugmediziner und Flugpsychologen im Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe wurden geschärft hinsichtlich möglichen Alkohol- und Medikamentenmissbrauchs. Die Aufmerksamkeit und das Bewusstsein sind die entscheidenden Faktoren für die Verbesserung der Betreuung und die Erhöhung der Flugsicherheit. Daneben liegt die Zuständigkeit für Vorgaben zur Umsetzung des Luftverkehrsgesetzes - unangekündigte Alkoholtests oder Tests auf psychotrope Substanzen - beim Luftfahrtamt der Bundeswehr. Die Durchführung solcher Tests wird in sinngemäßer Umsetzung des geänderten Luftverkehrsgesetz erfolgen."
Der Umstand, dass sowohl der Pilot als auch der Bordtechniker nicht vom Flugdienst abgezogen wurden, lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder die vorgesetzten Stellen hatten tatsächlich keine Kenntnis von einem allfälligen Alkoholproblem, oder aber es wurde aus falsch verstandener Kameradschaft nicht gemeldet. Berücksichtigt man die Tatsache, dass wohl selbst die restliche Crew von SAR 71 am Unglückstag nichts von der starken Alkoholisierung der beiden Männer mitbekommen haben dürfte, erscheint dem Chronisten dieser Zeilen die erste Variante als die wahrscheinlichere.
Witwe des Piloten zog vor Gericht und räumte Alkoholproblem des Gatten ein
Die Ehefrau des Piloten, er hinterließ auch zwei Kinder, versuchte in mehreren Instanzen auf dem Rechtsweg die Gewährung einer "besonderen Unfallhinterbliebenenversorgung" zu erreichen, indem sie trotz nachgewiesener Volltrunkenheit ihres verstorbenen Gatten, Hauptmann Dieter Sparding, argumentierte, dass die Unfallursache nicht geklärt sei. Es hätte auch eine "Explosion des Rettungshubschraubers aufgrund technischer Fehler" für den Tod der fünfköpfigen Besatzung verantwortlich sein können. Zudem machte sie geltend, dass die Vorgesetzten vom Alkoholproblem ihres verstorbenen Mannes hätten wissen müssen und ihn deshalb nicht hätten fliegen lassen dürfen.
Die Gerichte folgten dieser Argumentation allerdings nicht, sondern stellten unmissverständlich fest, dass alleine das in Folge seiner starken Alkoholisierung vom Piloten geflogene riskante und in der Bundeswehr verbotene Flugmanöver zum Absturz des SAR 71 geführt habe. Der Crash sei daher auch kein "Dienstunfall" gewesen, denn "durch seine die Flugfähigkeit ausschließende Trunkenheit" habe sich der Hauptmann "am Unfalltage vom Dienst gelöst", so die Richter. Es gebe auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Vorgesetzte von einem allfälligen Alkoholproblem von Hauptmann Sparding Kenntnis hatten und ihn daher mit Flugverbot belegen hätten müssen. Aufgrund dieser Erkenntnisse der Richter stünden der Witwe und den Kindern auch die geforderte "besonderen Unfallhinterbliebenenversorgung" nicht zu.
Betrieb ging weiter
SAR 71 nahm den Betrieb unmittelbar nach dem Unglück mit einem anderen Hubschrauber und einer neuen Crew wieder auf, so ein Bundeswehr-Sprecher: "Es entstand keine Ausfallzeit, da unverzüglich eine Ersatzmaschine bereit gestellt wurde." Bis Jänner 2006 gehörte der durch die Lüfte knatternde UH-1D zum Hamburger Stadtbild.
Mit 19. Jänner 2006 wurde der Luftrettungsdienst in Hamburg von der Bundeswehr an das Innenministerium übergeben. In den vergangenen 32 Jahren hatten die Crews von SAR 71 über 48.686 Einsätze absolviert und 37.707 Personen rasche Hilfe aus der Luft gebracht
Der Rufname des Helikopters wurde mit dem neuen Betreiber auf Christoph 29 geändert. Zunächst kam ein olivfarbener Bell 212 der Bundespolizei zum Einsatz, wenig später wurde das Fluggerät dann auf einen hochmodernen orange lackierten EC 135 umgestellt. Die Einsatzzahlen pro Jahr liegen weiterhin bei etwa 2.000 Flügen.
Im August 2008 kehrte SAR 71 gewissermaßen an seinen alten Standort, das Bundeswehrkrankenhaus Hamburg zurück - in Form eines Denkmals, dessen Herzstück ein ausgemusterter Huey ist. Der ausgestellte Hubschrauber vom Typ UH-1D samt einer Infoplatte würdigt damit den jahrelangen Einsatz der Bundeswehrteams im zivilen Luftrettungsdienst über der Hansestadt und dem norddeutschen Umland. Möglich machten dies zahlreiche ehemalige Crewmitglieder, eine Bürgerinitiative sowie Politiker.
Gedenken an den Absturz
Vor dem Bundeswehrkrankenhaus, in dem SAR 71 stationiert war, wurde ein Gedenkstein mit den Namen der fünf getöteten Crewmitglieder aufgestellt. Alljährlich gedenken ehemalige Kollegen dort der Opfer des schwärzesten Tages in der Geschichte der Hamburger Luftrettung.
Seit jenem schwarzen Tag im Frühling 2002 sind SAR 71 beziehungsweise sein Nachfolger, Christoph 29, von weiteren Unfällen glücklicherweise verschont geblieben - möge dies auch in Zukunft so bleiben.
Austrian Wings bedankt sich sehr herzlich beim Team der Webseite RTH.info für das zur Verfügung gestellte Fotomaterial und die Unterstützung bei der Recherche.
Text: P. Huber