94 Passagiere, zwei Piloten und acht Flugbegleiter besteigen am 11. Februar 1993 einen Airbus A310-304 der Lufthansa. Die Reisenden stammen aus Kanada, den USA, aus Deutschland, Irland, Großbritannien, Ägypten, Marokko, Somalia und Äthiopien.
Das Flugzeug mit der Kennung D-AIDM wurde erst vor etwas über einem Jahr an die Airline ausgeliefert. Die Kabine ist weniger als halbvoll, als der Airbus in Frankfurt startet. Mit einer Zwischenlandung in Kairo, Ägypten, soll der Zweistrahler nach Addis Abeba in Ähtiopien fliegen.
Doch rund 35 Minuten nach dem Start, die Maschine befindet sich im österreichischen Luftraum in der Nähe von Wien, stürmt der maskierte Äthipier Nebiu Zewolde Demeke mit einer Pistole bewaffnet in eine der Bordküchen, bedroht zwei Flugbegleiterinnen und zwingt eine von ihnen, ihm Zutritt zum Cockpit zu verschaffen. Damals waren die Cockpittüren noch nicht einbruchsicher oder gepanzert, sodass das Vorhaben problemlos gelingt. Zudem galt in der Zeit vor 9/11, dass Crews mit den Entführern kooperieren sollten, um eine Eskalation und ein Blutvergießen zu vermeiden.
Der 20-Jährige hatte zuvor einen Asylantrag in Deutschland gestellt, diesen später wieder zurückgezogen, um ein Flugticket nach Addis Abeba vom deutschen Staat bezahlt zu bekommen. Die Waffe – wie sich später herausstellen wird eine Startpistole mit Platzpatronen – hat er zuvor zerlegt unter seinem Hut durch die Sicherheitskontrolle geschmuggelt und an Bord auf der Toilette wieder zusammengebaut.
Im Cockpit bedroht der Flüchtling Kapitän Gerhard Goebel und dessen Ersten Offizier und fordert, nach New York geflogen werden. In einer Hand hält Demeke die Pistole, in der anderen einen Kompass, um überprüfen zu können, ob der Airbus auch tatsächich in Richtung Westen abdreht. Die Fluglotsen am Boden bemerken zwar die nicht autorisierte Kursänderung, wissen in diesem Moment jedoch nicht, was an Bord vor sich geht. Sie versuchen, Flug LH 592 über Funk zu erreichen.
Goebel, einem erfahrenen Lufthanseaten, der zuvor die Boeing 727 geflogen ist, gelingt es, deeskalierend auf Demeke einzuwirken und argumentiert, dass er mit der Flugsicherung Kontakt aufnehmen müsse, um eine Kollision mit anderen Maschinen zu vermeiden. Schließlich willigt der Entführer ein. Die Besatzung meldet eine Luftnotlage und erklärt, dass der Flug entführt worden ist. Anschließend machen die Piloten eine Ansage an die Passagiere: "Wir haben einen Passagier an Bord, der nicht nach Kairo möchte. Er hält mir eine Pistole an den Kopf. Wir drehen um. Sein Ziel ist uns nicht bekannt, wir folgen seinen Anweisungen."
Anschließend fragt der Kommandant den Entführer, wohin er wolle. "Nach New York", so die Antwort des Hijackers. "Was zur Hölle, willst Du dort?", soll Kapitän Goebel entgegnet haben. "Bring' mich hin oder ich erschieße Dich", ist der knappe Kommentar des Äthiopiers.
In mühsamen Diskussionen gelingt es den beiden Männer im Flugdeck, den Entführer davon zu überzeugen, dass sie für den Flug nach New York nicht genügend Treibstoff an Bord haben. Er stimmt einer Landung in Hannover zum Auftanken zu. Wiederum informieren die Piloten ihre Passagiere über die aktuelle Lage. Noch während sich das Flugzeug in der Luft befindet, laufen im Fernsehen erste Sondersendungen zur Entführung, die von Angehörigen der Passagiere in Europa und den USA gesehen werden.
In Hannover angekommen, wird das Flugzeug mit dem Namen "Chemnitz" sofort von Polizeieinheiten umstellt. Auch mehrere Dutzend Fotografen und Kamerateams, die von dem Zwischenfall erfahren haben, sind vor Ort. Die deutschen Einsatzkräfte wollen die Entführung eigentlich hier beenden, doch weil der Entführer damit droht, alle fünf Minuten eine Geisel zu erschießen, entscheiden sie sich, das Auftanken zu genehmigen. Indes spitzt sich die Lage im Cockpit zu, der Entführer wird immer nervöser und aggressiver, nachdem noch immer kein Treibstoff geliefert worden ist. Als die Piloten beim Tower nachfragen, erhalten sie die Erklärung: Der Fahrer des Tanklasters weigert sich, weil er Angst um sein Leben hat. Schließlich habe er eine Frau und zwei Kinder. Erst nach 40 Minuten ist der Tankwagen schließlich bei dem A310. Währenddessen ist auf dem Flughafen New York JFK bereits ein Krisenstab mit Verhandlungsspezialisten der Polizei eingetroffen und bereitet sich auf die Ankunft des Fluges vor.
Mittlerweile machen sich die Piloten an Bord des Airbus wieder abflugbereit. Weil der Entführer sich weigert, den Gurt anzulegen, überlegen beide Piloten kurz, den Start bei hoher Geschwindigkeit abrupt abzubrechen, um den Verbrecher überwältigen zu können. Doch schließlich entscheiden sie sich dagegen. "Es war einfach zu riskant", wird der damalige Erste Offizier später in einem Interview sagen. Rund drei Stunden nach dem Start in Frankfurt, hebt Flug 592 vollgetankt in Hannover ab und nimmt Kurs auf New York. Mitten über dem Atlantik nimmt der Entführer dann zum ersten Mal unvermittelt seine Maske ab.
Für die Passagiere in der Kabine verläuft der Flug - soweit man das in so einer Situation sagen kann - weitgehend normal. Die Flugbegleiter führen mit Erlaubnis des Luftpiraten sogar ein Bordservice durch, auf den Monitoren läuft das übliche Unterhaltungsprogramm. Nur Alkohol gibt es keinen.
Flugkapitän Goebel schafft es während des mehrstündigen Fluges, den Äthiopier zu beruhigen und eine Art Vertrauensverhältnis zu ihm aufzubauen. Auf die neuerliche Frage, warum gerade New York das Ziel sei, antwortet Demeke dieses Mal: "Private Gründe." Im späteren Verlauf der Gespräche erzählt der Hijacker den Piloten, dass seine Familie dort lebe, er aber keine Einreisegenehmigung erhalten habe.
Eine Stunde vor der Landung melden sich die US-Behörden über Funk bei LH 592 und sprechen ebenfalls mit dem Mann. Bereits seit einer halben Stunde ist der gesamte Flughafen zu diesem Zeitpunkt gesperrt. Schon bei diesen Gesprächen mit dem US-Beamten Dominick Misino kündigt der Entführer zur völligen Überraschung der Einsatzkräfte an, sich ergeben zu wollen – aber nur gegenüber Misino.
Acht Stunden nach dem Start in Hannover setzt die "Chemnitz" auf der Piste von New York JFK auf. Die Piloten sind in Sorge, dass die – für ihre Schießwütigkeit bekannten US-amerikanischen Polizeieinheiten – die Maschine sofort stürmen könnten.
Rund 15 Minuten nach der Landung schafft Kommandant Goebel, was wohl keinem Drehbuchautor besser einfallen könnte: Er überredet den Entführer, seine Pistole gegen Goebels Pilotensonnenbrille zu tauschen und sich zu ergeben. Dann allerdings wird es noch einmal brenzlig, denn Demeke zieht sich vor dem Verlassen des Airbus seine Maske über und legt den Rucksack an. Zudem widersetzt er sich den Anweisungen der Beamten, die Hände über den Kopf zu nehmen zunächst. Es ist pures Glück, dass er nicht erschossen wird. Nach seiner Festnahme stürmen SWAT-Teams die Maschine und weisen die Passagiere an, die Hände hoch zu nehmen. 15 Minuten lang durchsuchen die Polizisten das Flugzeug nach Sprengstoff und möglichen Komplizen. Erst dann wird den Insassen erlaubt, den A310 zu verlassen. Nun ist die Entführung der "Chemnitz" nach mehr als elf bangen Stunden endgültig unblutig zu Ende gegangen. Passagiere werden später allerdings verärgert sagen, dass die gefährlichste Situation die gewesen sei, als die US-Polizei die Maschine gestürmt und die Insassen mit vorgehaltenen Waffen bedroht habe.
Bei seiner ersten Vernehmung durch die Polizei noch auf dem Flughafen erklärt der 20-Jährige Luftpirat seine Motive: "Ich musste es tun. Meine Familie hat Visa für die USA, aber ich habe keines bekommen."
Später stellte sich heraus, dass der Entführer in die USA wollte, weil seine Schwester dort lebte und studierte. Nebiu Zewolde Demeke wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Und während Pilot Goebel für seine Besonnenheit Belobigungen erhielt, gerieten die zu laschen Sicherheitsvorkehrungen auf dem Flughafen Frankfurt in die Kritik.
Der entführte Airbus A310 kehrte nach Deutschland zurück und flog noch bis 1999 für die Lufthansa, ehe er für zwei Jahre an Air Afrique vermietet wurde. Von 2001 bis 2004 setzte die Lufthansa den Jet erneut ein, danach verkaufte sie ihn an die kanadische Air Transat, wo das Flugzeug bis 2009 im Dienst stand. Nach einem kurzen Gastspiel bei Vertir Airlines ab November 2009 gelangte der Jet schließlich unter nicht näher geklärten Umständen in den Iran. Seit Mai 2010 gehört die frühere "Chemnitz" als EP-MNO zur Flotte von Mahan Air, jener Airline also, der wegen ihrer engen Verstrickungen mit der radikal-islamischen Terrororganisation "iranische Revolutionsgarden" womöglich ein Einflugverbot nach Deutschland droht ...
Text: HP