Reportagen

Cleared to land: Der letzte (berufliche) Flug

Rolf Stünkel im Cockpit der T-38

Nach mehr als vier Jahrzehnten im Cockpit ist der ehemalige Starfighter-Pilot und spätere Lufthansa-Kapitän Rolf Stünkel jetzt in den Ruhestand geflogen. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir an dieser Stelle einen Gastbeitrag dieses außergewöhnlichen Fliegers aus Leidenschaft.

Die Altersgrenze von 65 Jahren ist erreicht – doch es fällt nicht leicht, als Pilot nach ziemlich genau 43 Jahren im Cockpit so einfach „Tschüss“ zu sagen. Als Junge wollte ich gar nicht Pilot werden, hatte nicht einmal ein Modellflugzeug gebastelt. Berufswunsch? Lehrer, Toningenieur ... irgendwas mit meinen Lieblingsfächern Musik und Sprachen sollte es sein. Doch vorher musste ich zum Bund. Unsere Familie wohnte an der Nordsee, da ging man zur Marine. Als 20-jähriger Offiziersanwärter mit vier Jahren Verpflichtungszeit erwischte mich eines Tages der Liebeskummer, und zwei Marinekameraden nahmen mich zum Frust-Abbau mit zum Fallschirmspringen auf der Insel Texel.

Anschnallübung auf dem Martin Baker Schleudersitz

Die 3. Dimension faszinierte mich, und ich warf alle beruflichen Pläne über den Haufen. Direkt vom Schiff aus ging ich nach Fürstenfeldbruck zur Piloten-Auswahl bei der Luftwaffe und wurde Jet-tauglich gemustert. Zunächst hatte ich mich für die „gemütlichere“ zweimotorige Fernaufklärer-Maschine Bréguet Atlantic entschieden, doch ein früherer F-104-Pilot auf unserer Kommandobrücke stimmte mich um. So lernte in den USA Starfighter fliegen und wurde anschließend auf dem Marinefliegerhorst Schleswig-Jagel eingesetzt. Am benachbarten Grasplatz kaufte ich für lächerliches Geld ein kleines Spornradflugzeug, mit dem ich in jeder freien Minute in der Luft war.

Rolf Stünkel (rechts) mit seinem Kameraden Klaus Spura
Flug in der T-38 - der Fluglehrer saß vorne

Der Starfighter war eine Droge: schön, schnell und sehr anspruchsvoll, mit engen aerodynamischen Grenzen. Für enge Turns und besondere Manöver konnte man noch bei über 500 Knoten die Landeklappen auf „Takeoff“ fahren und ihn so beispielsweise rechtzeitig in Bodennähe aus dem steilen Sinkflug abfangen.

Nach dem ersten Soloflug in der T-38 gab's von den Kameraden eine "Dusche". Das gleiche Prozedere wiederholte sich nach dem ersten Alleinflug im Starfighter
Fliegerglück: Der Autor im Cockpit der legendären F-104 Starfighter

Zu meiner Zeit, Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre war die „Hundertvier“ kein „Witwenmacher“ mehr - viele Modifikationen und durchdachtes Training hatten den Flieger sicherer gemacht. Ich flog und flog, was das Zeug hielt. Unter der Woche im Formations-Tiefflug über der Ost- und Nordsee zur Überwachung von Warschauer-Pakt-Schiffen und -Flugzeugen, auf einen Schießplatz oder zu Luftkampfübungen, am Wochenende öfters auf Luftwaffenbasen im Ausland. In der übrigen Zeit brummte ich mit meinem kleinen Flieger auf eine Nordseeinsel oder rüber nach Dänemark, ab und zu sogar nach Frankreich oder England.

1982 bekamen wir von der 1./ MFG 1 als erste Bundeswehrstaffel überhaupt das neue Kampfflugzeug Tornado. Es war zwar nicht zwar nicht halb so sexy wie der Starfighter und doppelt so schwer, dafür aber mit zwei Triebwerken, Luftbetankung, Hilfsturbine, modernem Funkgerät und anderen Annehmlichkeiten deutlich flexibler als die geliebte F-104. Als Zweisitzer unterwegs zu sein, war für uns zunächst ungewohnt. Bald fand ich es toll, im Team zu fliegen und die Aufgaben zu teilen.

Vom Tornado zur Boeing
Mit der Familiengründung reifte der Plan, irgendwann zur Airline zu wechseln. Der Hauptgrund: Bundeswehrpiloten gingen mit 41 nach Hause oder landeten als länger dienende Führungskraft meist früh am Schreibtisch. Ich war Mitte 30, Gastpilot der Marine, Einsatzoffizier und Fluglehrer auf dem Luftwaffen-Fliegerhorst Jever, als ich 1989 nach gut 17 Jahren auf eigenen Wunsch die Bundeswehr vorzeitig verließ und - nach privatem Lizenzerwerb - in Frankfurt als Copilot bei Lufthansa auf der B737-300 anheuerte.
Meine Familie blieb in Norddeutschland, ich pendelte zum Einsatzort. Zunächst flog ich 737-300, -400 und – 500. Dann kam mein damaliges Traumschiff, der Jumbo B747-400. Ich durfte als Copilot und Senior First Officer die Welt bereisen.

Mit 44 Jahren ging ich für gut acht Jahre als Kapitän zur frisch gegründeten Konzerntochter Condor Berlin auf den Airbus A320-200. Wir flogen zu allen europäischen Ferienzielen, oft bis zu 14 Stunden am Tag auf „Dreier-Kanaren“ oder „Dreier-Ägypten“ mit jeweils zwei ausländischen Landungen vor der Rückkehr zum jeweiligen deutschen Platz. Wir hatten junge Teams, neue Flugzeuge und eine gute Stimmung.

Schon in den ersten Copiloten-Jahren hatte ich zur Absicherung der Familienexistenz zu schreiben begonnen. Zunächst waren es einzelne Flugplatzportraits, dann feste Beiträge zu allen möglichen fliegerischen Themen und schließlich ein richtiger Nebenberuf für fünf Fachzeitschriften nebst eigenen Büchern, mehreren Übersetzungen und Lektoraten.

Die letzte fliegerische Station sollte im Jahre 2007 wieder Bayern werden, wo ich 1976 angefangen hatte. Mit knapp 53 Jahren wechselte ich zurück zur Lufthansa, nach München auf den Airbus A340-300. Langstrecke war genau mein Ding: fremde Länder, wechselnde Klimazonen, mehr Zeit vor Ort. Zusätzlich zu unseren bewährten Mustern A330-300 und A340-600 wurde ich mit 63 Jahren noch einmal auf den nagelneuen A350-900 geschult und genoss die letzten beiden Berufsjahre auf unserem wunderschönen Streckennetz zwischen Sao Paulo und Schanghai, Montreal und Kapstadt.

Mein letzter Flug ging Ende März 2019 nach Los Angeles – standesgemäß mit einem viermotorigen A340-600, meiner Ehefrau und einer handverlesenen Crew. Jeder, der einmal einen Traumberuf bis zum letzten Tag hat genießen dürfen, wird mir nachfühlen können: Der Abschied war äußerst emotional. Ich bekam ein sagenhaftes VIP-Programm von meiner Crew, der Flugsicherung und der Münchner Flughafen-Feuerwehr, die die D-AIHU nach der Rückkehr ordentlich duschte.

Von den Lufthansa-Kollegen gab's zum Abschied eine goldene Kapitänsjacke

Fazit: Fliegen ist für die meisten meiner Kollegen in Nah und Fern Berufung und Lebensart. Wer fliegt, sollte flexibel sein und Schlafmangel ertragen können, Kritik vertragen, Sorgfalt walten lassen. Toleranz gegenüber anderen Menschen, Rassen und Kulturen ist ebenso Voraussetzung wie die Bereitschaft, respektvoll mit der eigenen Crew zusammenzuarbeiten. Sicherheit, Pünktlichkeit, Wirtschaftlichkeit und Passagierkomfort sind Ziele, bei deren Erfüllung manchmal Erlerntes aus vergangenen Kampfjet-Zeiten zählt. Ein Flugzeug ist ein Flugzeug, wenn es zur Landung ansetzt. Ob mit 180 Knoten im Starfighter oder bei Schneegestöber oder in einer stürmischen Regennacht in San Francisco auf einem vollbesetzten Airbus, die letzten Meter sind stets Augen-, Hand- und Fußarbeit. Eine Unachtsamkeit, und der Flieger kann im Dreck landen; da helfen weder Fly-by-Wire noch Head-Up-Display.

Nach der letzten (beruflichen) Landung in München

Bis 65 beruflich fliegen zu dürfen, hätte ich mit 22 nicht im Traum erwartet. Man vertraute mir die besten Crews und modernsten Flieger an und ließ mir im Rahmen der Regeln viele Freiheiten. Ich durfte Tausende von Gästen an ihre Reiseziele bringen und viel von der Welt sehen. Nichts, gar nichts kann schöner sein ...

Text & Fotos: Rolf Stünkel

Nach seiner letzten Landung hatte Rolf Stünkel 22.500 Flugstunden in seinem Logbuch stehen. Auch in Zukunft wird der leidenschaftliche Aviator die Finger nicht ganz vom Steuerknüppel lassen können - als Ausbilder wird er sein Wissen und Können im Simulator an jüngere Flugzeugführer weitergeben. Am 1. April erscheint außerdem die vierte aktualisierte Ausgabe seines Buches "Inside Cockpit" mit einem zusätzlichen Kapitel über die Boeing 777 der AUA.