Punktlandung

Corona-Maßnahmen: Warum manche Airlines Sitzplätze blockieren und andere nicht

Symbolbild Flugverkehr - Foto: Robert Erenstein / Austrian Wings Media Crew

In der Luftfahrtindustrie wird derzeit eine interessante Frage diskutiert: Sollten Fluggesellschaften alle Sitze auf ihren Flügen verkaufen oder einige blockieren, um die Menschen vorerst etwas weiter auseinander zu halten? Ein Gastbeitrag von Ben Baldanza und Sebastian Moritz.

Niemand glaubt ernsthaft, dass man in einem Flugzeug immer den angemessenen Abstand halten kann. Das Tragen einer Maske und ein leerer Sitzplatz zwischen den Passagieren trägt jedoch subjektiv zu dem Gefühl bei, dass das Risiko beim Flug nicht sonderlich hoch ist, vor allem im Vergleich zu dicht gedrängten Menschenansammlungen.

Gordon Bethune, CEO von Continental Airlines in den 1990er Jahren, pflegte zu sagen: Die ganze Luftfahrtindustrie sei nur so klug wie ihr dümmster Wettbewerber. Er verwendete diese Aussage oft in Bezug auf die Preisgestaltung, wenn er frustriert darüber war, dass andere Fluggesellschaften zu günstige Tickets verkauften, obwohl subjektiv die Nachfrage doch zu Gunsten der Fluggesellschaften ausfiel. Wer ist nun bei der aktuellen Situation der Dumme: Diejenigen, die mehr Sitze freihalten oder diejenigen, die so viele Plätze wie möglich verkaufen? Das hängt vor allem davon ab, wie weit man im Voraus denkt.

Eine der Hauptprioritäten der Fluggesellschaften besteht heute darin, das Vertrauen der Fluggäste zurückzugewinnen. Jeder Passagier, der momentan fliegt, redet im Anschluss vermutlich mit Dutzenden Menschen über seine Reise. Waren die Erfahrungen positiv, besteht kein Zweifel, dass dies die Meinung anderer in gewissem Maße ebenfalls positiv beeinflussen wird. Hätte der Passagier umgekehrt schlechte Erfahrungen gemacht mit vollbesetzten Flugzeugen und mangelnder Einhaltung der Maskenpflicht, würde er die anderen eher negativ beeinflussen. Auf Basis dieses Gedankenspiels ist zu vermuten, dass einige Fluggesellschaften weiter in die Zukunft vorausplanen als andere.

Viele Fluggesellschaften denken momentan kurzfristig und versuchen, aktuelle Gewinne und Umsätze zu maximieren. Sie verkaufen also jeden Platz, den sie verkaufen können. Da die Grenzkosten der Fluggesellschaften niedrig sind, bedeutet das, dass selbst niedrige Ticketpreise besser sind als leere Sitze. Dadurch werden die Einnahmen im laufenden Monat und Quartal sicher maximiert. Aber zu welchen langfristigen Kosten? Sind Beschwerden auf TripAdvisor und anderen Websites über volle Flugzeuge und das wahrgenommene Risiko an Bord von Airlines wie American, United oder Spirit wirklich der beste Weg, um die Nachfrage schnell wieder anzukurbeln?

Verglichen mit den positiven Bewertungen von Kunden, die mit Fluggesellschaften wie Alaska, Delta, JetBlue oder Southwest fliegen, welche alle an blockierten Sitzen an Bord festhalten, wohl eher nicht. Die Meinung von Passagieren auf diesen Flügen wird vermutlich eher diejenigen Menschen überzeugen, die momentan immer noch nervös sind, was das Fliegen betrifft. Dies ist grundsätzlich ein langes Spiel, und die Rückkehr zur Nachfrage aus der Zeit vor dem Coronavirus sollte das Ziel für die gesamte Branche sein. Sicher, einige Flüge mit freien Sitzplätzen könnten auch ausgebucht sein. Aber die meisten haben derzeit sowieso nur eine Auslastung von 50 bis 60 Prozent. Das bedeutet, dass die Kosten für die Vertrauensbildung gering sind, während die Vorteile, alles zu verkaufen, nicht überzeugen können.

Dies kann man mithilfe einer spieltheoretischen Auszahlungsmatrix modellieren. Die folgende Tabelle zeigt, was man für eine Rendite nach 30 Tage schätzen kann, unter der Annahme, dass zwei Fluggesellschaften A und B jeweils unabhängig voneinander entscheiden, alle Sitze zu verkaufen oder einige Sitze zu blockieren:

Auszahlungsmatrix nach 30 Tagen

Airline A/B

Sitzplätze blockieren

Sitzplätze verkaufen

Sitzplätze blockieren

-5

+5

Sitzplätze verkaufen

+5

-5

Die Tabelle zeigt, dass der Branche einige Einnahmen entgehen, wenn beide Fluggesellschaften Sitze blockieren. Wenn jedoch eine Fluggesellschaft Sitze verkauft, während die andere Airline Sitzplätze freihält, erzielt die erste einen kleinen Gewinn, weil ihre Einnahmen wachsen, während die andere Airline sich eingeschränkt hat. Nach 30 Tagen wird die Veränderung des Verbrauchervertrauens noch gering sein, sodass der Verkauf der Sitze logisch erscheint, obwohl die Kosten für diejenigen, die dagegen einige Sitze blockieren, relativ niedrig sind. Aber wie sieht es mit den langfristigen Effekten aus? Folgende Tabelle zeigt eine mögliche Auszahlung nach sechs Monaten:

Auszahlungsmatrix nach sechs Monaten

Airline A/B

Sitzplätze blockieren

Sitzplätze verkaufen

Sitzplätze blockieren

+20

+5

Sitzplätze verkaufen

+5

+3

Dies Matrix zeigt, dass über einen längeren Zeitraum hinweg beide Fluggesellschaften, die sich dafür entschieden haben, Sitze freizuhalten, eine viel schnellere Erholung der Gesamtnachfrage erreichen würden. Jede Fluggesellschaft erhält dann die größte Auszahlung. Wenn beide Fluggesellschaften in den nächsten sechs Monaten alle Sitze verkaufen, ist ihre Rendite zwar immer noch positiv, fällt aber viel geringer aus, da viele Verbraucher beschließen, aus Angst vor vollen Flugzeugen und einer Ansteckung mit dem Coronavirus, nicht zu fliegen.

Zwar kann die genaue Höhe der Auszahlungen variieren, je nachdem welchen Standpunkt man deutlich machen will. Aber grundsätzlich sind die gewählten Zahlen sehr wahrscheinlich, da die Fluggesellschaften erst dann eine starke Nachfrage erzielen, wenn die Verbraucher darauf vertrauen, dass sie sicher an Bord gehen können. Das bedeutet, dass jede aktuelle Kundenerfahrung für die nächsten Monate von großer Bedeutung für das Verbrauchervertrauen ist. Diesen Ansatz verfolgen Alaska, Delta, JetBlue und Southwest. Es ist zwar auch verständlich, was United, American und Spirit tun, und dass ihrer Meinung nach, das heutige Handeln wenig bis gar keine Auswirkungen auf die langfristige Nachfrage in der Flugbranche hat. Dieser Einschätzung wird sich aber vermutlich nicht zutreffen.

Interessanterweise scheint diese Debatte vor allem in den USA geführt zu werden. Ein gerade veröffentlichter Bericht von CarTrawler und IdeaWorks zeigt, wie 25 Fluggesellschaften auf der ganzen Welt das Coronavirus-Problem angehen. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es Menschen, die einen freien mittleren Sitze fordern. Bei so viel Ungewissheit über die Zukunft und die langfristigen Nachfragetrends für die Luftfahrtindustrie sollten Fluggesellschaften alles dafür tun, um es den Kunden kurz- und langfristig recht zu machen.

Über die Autoren
Ben Baldanza war CEO von Spirit Airlines und sitzt nun in verschiedenen Aufsichtsräten öffentlicher und privater Unternehmen. Er lehrt außerdem Wirtschaftswissenschaften an der George Mason University in den USA und ist Co-Moderator des beliebten wöchentlichen Podcasts „Airlines Confidential“.

Sebastian Moritz ist Managing Partner bei TWS Partners, einer marktführenden Beratungsgesellschaft für kommerzielle Anwendungen der Spieltheorie. Er studierte angewandte Spieltheorie in Deutschland und Kanada und promovierte im Bereich Supply Chain Management zum Thema Lieferantenauswahl in Hochrisikoszenarien.

Text: Ben Baldanza & Sebastian Moritz

Hinweis: „Punktlandungen” sind Kommentare einzelner Autoren, die nicht zwingend die Meinung der Austrian Wings-Redaktion wiedergeben.