Dass der 1958 in Zams geborene Werner Senn überhaupt Polizist, oder besser gesagt, zunächst Gendarm wurde, war eigentlich gar nicht sein Lebensplan. "Doch durch meinen Vater, der Gendarmerie-Hundeführer war, ergab sich eine gewisse Vorbelastung in diese Richtung", schmunzelt der sympathische Tiroler im Gespräch mit dem Autor. Dennoch zog es Senn zunächst mehr in den Sportbereich: "Ich wollte das Skigymnasium in Stams absolvieren, doch als ich 14 Jahre alt war verunglückte mein Vater tödlich. Neben der Trauer standen auch meine Zukunftspläne auf der Kippe." Doch sein Taufpate ließ Senn nicht im Stich. Er bot ihm an, in seinem Unternehmen eine Lehre als Bürokaufmann zu absolvieren und nebenbei eine sportliche Karriere zu verfolgen. Leider verstarb auch der Pate und Förderer nach eineinhalb Jahren, doch Senn schloss die Lehre ab, wechselte aber dann das Berufsfeld und trat als 20-Järiger der Gendarmerie bei, wo sein sportliches Talent abermals gefördert wurde. Es folgten Ausbildungen zum Alpinisten, Hochalpinisten und Bergführer, sowie die Qualifikation als staatlich geprüfter Skiführer und Skilehrer. Von 1978 bis 1981 erkämpfte sich der junge Tiroler außerdem im Wildwasser-Paddelsport und als Mitglied des TWV Innsbruck mehrere Tiroler Meistertitel, 1979 gewann er das internationale Sannarennen.
1980 fuhr Senn dann sein erstes Profi-Skirennen in Sölden und musste gegen die damals Besten der Welt antreten, um sich zu beweisen: Andre Arnold, Hansi Hinterseer und den Olympiasieger Francisco Fernandez Ochoa. Der ehrgeizige Westösterreicher schaffte es und nahm in den folgenden Jahren an den Weltmeisterschaften der Skiprofis teil. Zudem errang er 1990 bei den World-Championships of Endurance Skiing in Aspen (USA) sogar die Goldmedaille.
Aufgrund seiner alpinen Ausbildungen wurde Senn 1983 als Flugretter der Flugpolizei des Innenministeriums zugeteilt: "Damals flogen die Helikopter des Innenministeriums unter dem Rufnamen "Martin" in ganz Österreich Primärrettungseinsätze und führten vor allem im Gebirge viele Taubergungen durch."
Drei Jahre später verunfallte der mittlerweile 28-Jährige bei einem Abfahrtslauf so schwer, dass er selbst als Patient in einem Helikopter des Innenministeriums landete und ins Krankenhaus geflogen werden musste.
"Die Profikarriere als Sportler hat auch körperlich ihren Tribut gefordert. Verletzungen sind da nicht ausgeblieben, aber ich habe nie aufgegeben."
Werner Senn
Fortan ließ der naturverbundene Tiroler die sportlichen Wettkämpfe ruhen und konzentrierte sich auf den Alpindienst bei der Exekutive, um Menschen in Not zu helfen. "Allerdings hatte ich durch den jahrelangen Sport meine berufliche Weiterbildung etwas vernachlässigt und daher auch keine Matura", schildert Senn freimütig.
Kurzerhand legte er deshalb 1992 die Studienberechtigungsprüfung ab und absolvierte anschließend von 1993 bis 1998 das Studium der Rechtswissenschaften, das er mit dem akademischen Grad Magister abschloss. "Daneben flog ich weiterhin als Flugretter auf der Flugeinsatzstelle Innsbruck."
Feuerprobe in Galtür
Nur ein Jahr nach Abschluss seiner akademischen Ausbildung wurde Senn in seiner Tiroler Heimat mit einer der größten Lawinenkatastrophen Österreichs - die wenige Jahre später zum Ankauf der Black Hawk für das Bundesheer führen sollte - konfrontiert. In Galtür fungierte der erfahrene Beamte im Februar 1999 als Einsatzleiter. Senns Verdienste bei dieser Tragödie wurden mit der Verleihung der Goldenen Medaille am roten Bande für Verdienste um die Republik Österreich, umgangssprachlich Lebensrettungsmedaille genannt, offiziell gewürdigt.
"Der Einsatz in Galtür war für jeden Helfer sehr herausfordernd. Alle Einsatzkräfte haben hier Übermenschliches geleistet, teils unter einem hohen persönlichen Risiko."
Werner Senn
In den Jahren danach war er Mitbegründer, Initiator und Geschäftsführer des ASI-Tirol (Alpines Sicherheits- und Informationszentrum), welches primär als Internetplattform und Koordinationsstelle für sicherheitsrelevante Problemstellungen im alpinen Raum konzipiert wurde. Im Jahr 2002 erhielten Senn und sein Team dafür den ARGE-Alp-Zukunftspreis.
Pilot in Command
Im gleichen Jahr erfüllte sich der Alpinist aus Leidenschaft einen lang gehegten Wunsch: "Ich wollte nicht länger nur im Cockpit mitfliegen, sondern selbst das Steuer übernehmen." Gesagt, getan: Beim Flugsportzentrum Tirol am Flughafen Innsbruck - nahe seiner Heimat-Flugeinsatzstelle - absolvierte der Überflieger auf Diamond Katana und Super Dimona die Privatpilotenausbildung, die er am 25. Mai 2004 abschloss.
"Die Schulung ist in unserer Region aufgrund der Topographie sowie der Wetterlagen und des Föhns sehr anspruchsvoll. Aber langfristig betrachtet war das eine hervorragende Investition in die Flugsicherheit", lässt der erfahrene Flieger diese Zeit für "Austrian Wings" noch einmal Revue passieren.
"Polizist zu sein, heißt für mich, dass man sich in der Gesellschaft einbringt und Menschen hilft. Das ist aus meiner Sicht ein sehr sozialer Beruf."
Werner Senn
Beruflich war der Tiroler weiterhin als Polizist und Flugretter für das Innenministerium tätig.
Selbst in seiner Freizeit half er Menschen in Not und engagierte sich zusätzlich ehrenamtlich bei der Bergrettung Tirol sowie als Flugretter auf dem ÖAMTC-Notarzthubschrauber Christophorus 5 in Landeck.
Leiter der Flugpolizei
2005 dann der nächste Schritt auf der Karriereleiter: Das Innenministerium ernannte Werner Senn zum Leiter der Flugpolizei.Damit übernahm er die Verantwortung für die Führung von rund 180 Mitarbeitern. "Für mich war es immer wichtig, dass ich fachlich für meinen Beruf bestmöglich qualifiziert bin. Also absolvierte ich die Berufspilotenausbildung für Hubschrauber und anschließend die Schulung für Einsatzpiloten der Polizei. Ich konnte einen so verantwortungsvollen Bereich doch nicht übernehmen, ohne zu wissen, was die Piloten benötigen."
Und weil in der Luftfahrt "Safety first" gilt, war die Ausbildung für Senn nicht nur ein Lippenbekenntnis: "Eine Ausbildung zu absolvieren und dann nicht zu nutzen, wäre Zeit- und Geldverschwendung. Daher flog ich regelmäßig Einsätze auf verschiedenen Stützpunkten."
"Durch meine aktive Tätigkeit als Einsatzpilot wusste ich all die Jahre stets exakt, was unsere Piloten und Besatzungen brauchen, um ihre verantwortungsvolle Aufgabe bestmöglich erfüllen zu können."
Werner Senn
Senn war und ist ein Macher. Unter seiner Federführung wurde die Beschaffung von insgesamt 15 Helikoptern für die Flugpolizei - darunter die Einführung des Musters EC135 im Jahr 2008 - eingeleitet, ebenso sorgte er für eine Modernisierung der Infrastruktur, für die Einführung des FLIR-Nachtflugbetriebes (Forward Looking Infrared) an drei Außenstellen mit NVG-Brillen (Night-Vision-Goggles) und Wärmebildkamera.
Von 2005 bis 2008 war der Tausendsassa zudem auch Obmann des österreichischen Polizeibergführerverbandes und Vizepräsident des Kuratoriums für Alpine Sicherheit.
Tragödien
In seine Amtszeit fielen aber leider auch drei schwere Unglücke der Flugpolizei. Im Mai 2007 verunfallte eine Ecureuil bei einem anspruchsvollen Trainingsmanöver nahe der Flugeinsatzstelle Innsbruck, als die zweiköpfige Crew nach einer Autorotationsübung in niedriger Höhe wieder durchstarten wollte. Die beiden Insassen wurden schwer verletzt: "Als Konsequenz daraus haben wir das Prozedere geändert. Das unterscheidet die Luftfahrt von vielen anderen Bereichen des Lebens. Wir lernen aus Tragödien und machen die Fliegerei somit noch sicherer." Nur zwei Jahre später stürzte eine weitere Ecureuil auf einem Einsatzflug in Deutschlandsberg (Stmk.) ab. Der Grund: Technische Probleme führten in niedriger Flughöhe zu einem Leistungsverlust am Triebwerk. Die traurige Bilanz: Zwei von drei Besatzungsmitgliedern starben. "Von Sensationsjournalisten wurde der verunglückten Besatzung anschließend unterstellt, sie habe einen Lokalbesuch gemacht. Das ist natürlich völliger Unsinn. Tatsächlich befand sich unsere Crew auf der Suche nach einer vermissten Person."
"Als Leiter der Flugpolizei fühle ich mich für jeden meiner Kollegen verantwortlich. Daher stehe ich auch heute noch, wenn das von den Hinterbliebenen gewünscht wird, mit den Familien tödlich verunglückter Kameraden in Kontakt und versuche, sie bestmöglich zu unterstützen."
Werner Senn
Auch das bis heute schwerste Unglück der Flugpolizei mit vier Todesopfern fiel in die Amtszeit von Werner Senn und hat ihn persönlich schwer getroffen. Am 30. März 2011 stürzte der EC 135 mit der Kennung OE-BXF in den Achensee. Die Ursache ist bis heute ungeklärt.
Aktuell ermittelt im Auftrag des Innenministeriums eine neue internationale Kommission aus deutschen und schweizer Experten, weil der Bericht des Verkehrsministeriums laut Ansicht zahlreicher Piloten schwere fachliche Mängel aufweist.
"Für das Bundesministerium für Inneres ist die Unfallursache nicht restlos geklärt. Es ist sowohl mir als auch den zuständigen Funktionsträgern und Organisationseinheiten im Bundesministerium für Inneres ein zentrales Anliegen, die nach wie vor offenen Fragen einer Klärung zuzuführen, um gegebenenfalls Lehren in Zusammenhang mit dem Safety Management, der Ausbildung oder auch organisatorischer Natur ziehen zu können."
Innenminister Karl Nehammer zum Achensee-Absturz, Juni 2020
"Auch hier spielten gewisse Journalisten, die offenbar auf so manchen unseriösen Einflüsterer hörten, ohne dessen Motive kritisch zu hinterfragen, eine sehr fragwürdige Rolle und verunglimpften das Ansehen eines erfahrenen, kompetenten Piloten und Familienvaters mit erwiesenermaßen falschen Behauptungen", ist Senn noch heute fassungslos.
"Die Behauptung mancher Journalisten von "wilden Flugmanövern" des beim Achensee-Absturz verunglückten Pilotenkollegen wurde sogar vom Verkehrsministerium öffentlich in einer Presseaussendung zurückgewiesen. Entschuldigt haben sich diese Schreiberlinge aber nie für ihre rufschädigenden Vorwürfe. Das macht mich sehr traurig und hat auch die Familie des Piloten hart getroffen."
Werner Senn
Im gleichen Jahr wurde unter Senns Führung auch das Bergekonzept von "Fixtau" auf "variable Seillänge" umgestellt: "Wir haben das System über einen längeren Zeitraum entwickelt und schließlich bis zur Einsatzreife erprobt."
"Jeder der Unfälle in meiner Amtszeit war eine persönliche Tragödie. Es gibt nichts Schlimmeres, als zum Unglücksort von abgestürzten Kameraden fliegen zu müssen."
Werner Senn
Die möglichst lückenlose Aufklärung aller Unfälle war ihm stets wichtig: "Wir haben natürlich auch im Fall des Achensee-Unglücks einen fundierten Bericht erstellt, der in Fliegerkreisen weitgehend als plausibel anerkannt ist. Jahre später veröffentlichte dann das Verkehrsministerium ein eigenes Papier, in dem völlig unverständlicherweise völlig gegenteilige Schlüsse gezogen wurden und zwar von Leuten, die nicht einmal einen Flugschein haben, dafür aber den tödlich abgestürzten Kollegen noch am Unfalltag vor Zeugen als Cowboy bezeichnet haben, weshalb ohnedies jede weitere Untersuchung unnötig sei. Ein paar Journalisten, die offenbar unter diesen Leuten Informanten haben, sind dann kritiklos auf diesen Zug aufgesprungen und haben mit ihren Artikeln nicht nur nach meinem Empfinden einen regelrechten Kreuzzug gegen die Flugpolizei geführt."
Konstruktives Arbeiten, Dinge voranbringen - das war und ist Senns Lebenseinstellung. Und so ist es ihm zu verdanken, dass nahe dem Flughafen Wien Schwechat im vergangenen Jahr eine neue nach modernsten Kriterien konzipierte Flugeinsatzstelle in Wien-Schwechat eröffnet werden konnte.
In seine Amtszeit fällt auch noch die geplante Verlagerung der Zentrale der Flugpolizei von Wien-Meidling in die Cobra-Kaserne in Wiener Neustadt. Baubeginn für dieses Projekt soll nächstes Jahr sein. Und noch vorigen Sommer stießen vier weitere hochmoderne H135 P3 mit Glascockpit sowie zwei H125 (vormals AS350) zur Flotte der fliegenden Ordnungshüter.
Wenn Senn heute, einen Tag nach seinem letzten Dienst als Einsatzpilot, auf sein Lebenswerk zurück blickt, erfüllt ihn tiefe Dankbarkeit wie er sagt: "Ich konnte in meinem Leben so vielen Menschen helfen, etwa wenn wir Vermisste und Verletzte aus den Bergen retten konnten. Das waren schöne Momente, die ein Leben lang in Erinnerung bleiben. Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten viele großartige Kollegen und Kameraden kennengelernt und hatte die Möglichkeit, mit einem tollen Team die Modernisierung und den Ausbau der Flugpolizei mitzugestalten und diese Einheit der Exekutive dadurch fit für die Herausforderungen der Zukunft zu machen. Das betrachte ich als Ehre und Privileg."
"Ich denke heute auch an jene Menschen, die wir leider nicht mehr retten konnten. Und ich bin in Gedanken bei jenen Kameraden, die im Dienst für die Allgemeinheit ihr Leben verloren haben, sowie ihren Familien."
Werner Senn
In seiner neu gewonnenen Freizeit wird der junggebliebene 62-Jährige, er ist übrigens auch gerichtlich beeideter Sachverständiger für Ski- und Snowboardunfälle, Flugrettungs- und Lawinenunfälle sowie Autor des Buches "Skirecht Ratgeber", jetzt etwas leiser treten und wieder öfter dorthin zurückkehren, wo vor mehr als 40 Jahren alles begann: "Ich freue mich schon auf ausgiebige Touren in die Berge meiner geliebten Heimat Tirol. Es ist ein bisschen wie mit dem Fliegen: Wen diese Faszination einmal gepackt hat, den lässt sie nicht mehr los."
Text: P. Huber
Fotos: Sofern nicht anders angegeben, Archiv WS