Austrian Wings Leser kennen die Vorgeschichte: Aus Istanbul kommend befand sich die Boeing 737-800, TC-JGZ, der Turkish Airlines am 21. November 2019 im Anflug auf die Piste 16 des Flughafens von Odessa, als die Besatzung ein Durchstartmanöver einleitete. Beim zweiten Landeversuch kam der Zweistrahler kurz nach dem Aufsetzen von der Piste ab, wobei ein Teil des Fahrwerks kollabierte. Das Flugzeug wurde anschließend über die Notrutschen evakuiert. Die 134 Insassen kamen ersten Medienberichten zufolge mit dem Schrecken davon. "Glück im Unglück": Da der Unfall in der Ukraine passierte, gibt es nun einen öffentlich einsehbaren Abschlussbericht. Denn die Türkei selbst veröffentlicht entgegen allen internationalen Standards Unfallberichte nicht.
In ihrem Abschlussbericht kommen die ukrainischen Experten zu der Erkenntnis, dass es den Piloten bei starkem Seitenwind nicht gelungen war, das Flugzeug nach dem Aufsetzen auf der Piste zu halten, weil sie "insuffiziente Maßnahmen" gesetzt hätten. Zu dem Unfall beigetragen habe auch eine nicht optimale Landetechnik, deren Anwendung unter den vorherrschenden Wetterbedingungen von Boeing ausdrücklich nicht empfohlen wird.
"In welchem Land der Welt bitte kann man nach 400 Stunden Gesamtflugerfahrung Kapitän werden?"
Ein ehemaliger A320-Fluglehrer gegenüber "Austrian Wings"
Als "Pilot Flying" agierte der 42-jährige Kapitän, der laut dem Bericht 6.094 Stunden Gesamtflugerfahrung, davon 5.608 als Kommandant hatte. Sollten diese Zahlen stimmen, wäre das ausgesprochen auffällig. "Denn dann wäre der Commander nach 400 Stunden Gesamtflugerfahrung sofort Kapitän auf der Boeing 737 geworden. Allein das Kapitänstraining dauert rund 200 Stunden "on type", dazu kommen noch Simulatorzeiten", gibt ein pensionierter Flugkapitän und Ausbilder zu bedenken. Der Erste Offizier (31) war mit 252 Gesamtflugstunden, davon 175 auf der Boeing 737 dagegen noch recht unerfahren. Üblicherweise dauert es 3.000 bis 6.000 Stunden, ehe ein Erster Offizier auf einem derartigen Verkehrsflugzeug Kapitän wird, bei manchen Airlines noch deutlich länger.
Aufholbedarf bei Flugsicherheit
Während das Bord- und Passagierservice von Turkish Airlines einhellig positiv bewertet wird (siehe auch die entsprechende bisherige Skytrax-Bewertung), gibt es bei der Sicherheit schon seit längerem deutlich Luft nach oben. Turkish Airlines geriet in der Vergangenheit immer wieder durch auffällig viele Un- und Zwischenfälle ins Kreuzfeuer der Kritik von Fachleuten. Teilweise ereigneten sich zwei Tailstrikes in einem Monat, mehrfach führten Pilotenfehler zu Unfällen mit Toten. Zuletzt im Jänner 2017, als ein für Turkish Airlines im Wetlease fliegender Boeing 747-Frachter einer anderen türkischen Fluggesellschaft verunglückte – Turkish Airlines wollte die nachfolgende Berichterstattung daraufhin zensurieren lassen. Und im Dezember 2018 starteten Piloten eines A330 der Gesellschaft mit nicht korrekt verriegelten Cockpitfenstern, Austrian Wings berichtete.
(red)