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Abschlussbericht zu Ju Air Crash mit 20 Todesopfern: Piloten verhielten sich "hochriskant"

Das Wrack der HB-HOT - Foto: SUST

Rund zweieinhalb Jahre nach dem Absturz der Ju 52 HB-HOT der Ju Air hat die Schweizer Unfalluntersuchungsstelle (SUST) nun den Abschlussbericht zu dem Unglück veröffentlicht. Darin bestätigen die Experten, was Fachleute bereits kurz nach dem Unglück vermutet hatten: Ein Totalversagen der Crew und mangelndes Sicherheitsbewusstsein beim Betreiber Ju Air hatte zu dem Unglück geführt. Entsprechende Missstände existierten demnach schon seit längerem, waren aber nie behoben worden. Zudem war die Maschine technisch in einem schlechten Zustand und auch die Motoren wiesen Mängel auf. Und auch die Unglückspiloten hatten bereits mehrfach gegen sicherheitsrelevante Regeln verstoßen. Besonders tragisch: Laut SUST wäre - bei richtigem Verhalten der Crew - die Überquerung der Berge "problemlos möglich" gewesen.

Am 4. August 2018 verunfallte ein als "Tante Ju" bekanntes historisches Verkehrsflugzeug Junkers Ju 52, betrieben durch Ju-Air, bei Flims. Alle 20 Personen an Bord des Flugzeuges kamen dabei ums Leben. Die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST) hat den Unfall untersucht,um seine Ursachen und die tieferliegenden Gründe zu finden. Die SUST hat am 28. Januar 2021 den Schlussbericht zu diesem Absturz veröffentlicht. Die SUST kommt in ihrem Bericht zum Schluss, dass Handlungen der Piloten zum Absturz führten. Zudem trugen auch Unterlassungen im Flugbetriebsunternehmen Ju-Air und Vorgänge bei der Aufsichtsbehörde, dem Bun-desamt für Zivilluftfahrt (BAZL) dazu bei, dass ein solcher Unfall entstehen konnte, heißt es in einer Erklärung der Behörde.

Video: SUST

Als direkte Ursache für den Unfall nennt die SUST eine wörtlich "hochriskante Flugführung" durch die Piloten.

"Die Piloten steuerten das Flugzeug in geringer Höhe, ohne Möglichkeit für einen alternativen Flugweg und mit einer für diese Verhältnisse gefährlich tiefen Geschwindigkeit in das enge Tal südwestlich des Piz Segnas. In diesem Tal durchflog das Flugzeug Turbulenzen, wie sie im Gebirge in Geländenähe stets zu erwarten sind. Diese hochriskante Flugführung bewirkte, dass die Piloten in diesen nicht außergewöhnlichen Turbulenzen die Kontrolle über das Flugzeug verloren und für ein Abfangen des Flugzeuges zu wenig Raum zur Verfügung stand. Als Folge davon stürzte das Flugzeug nahezu senkrecht zu Boden."
Der SUST-Bericht zur Absturzursache

Bei der Ju Air habe sich über Jahre der sprichwörtliche "Schlendrian" Einzug gehalten, um die Sicherheitskultur sei es ausgesprochen schlecht bestellt gewesen, hält die SUST in ihrem Bericht weiters fest.

"Die Piloten des Unfallfluges und auch eine Anzahl anderer Piloten von Ju-Air hatten sich bei Ju-Air daran gewöhnt, Regeln für einen sicheren Flugbetrieb nicht einzuhalten und auch bei Flügen mit Passagieren hohe Risiken einzugehen."
Der SUST-Bericht

Die Ju Air als Flugbetriebsunternehmen erkannte die wesentlichen Risiken in seinem Flugbetrieb nicht, konstatieren die Experten der SUST. Auch verhinderte die Ju Air die zahlreichen Regelbrüche ihrer Piloten nicht.

"Verschiedene Voraussetzungen, die für gewerblichen Luftverkehrsbetrieb mit Passagieren ein hohes Maß an Sicherheit gewährleisten sollen, waren seit längerer Zeit nicht erfüllt."
Der SUST-Bericht

Kritik wird auch an der Aufsichtsbehörde BAZL geübt: Die Aufsichtstätigkeit des BAZL vermochte laut SUST zahlreiche Sicherheitsprobleme bei Ju´Air nicht zu erkennen beziehungsweise zeigte nicht genügend Wirkung.

Neben diesen Faktoren ermittelte die SUST weitere Risiken, die sich jedoch nicht auf den Unfall auswirkten. Insbesondere befand sich das verunfallte Flugzeug technisch nicht in einem ordnungsgemäßen Zustand. Darüber hinaus wurde die HB-HOT am Unglückstag mit einem zu weit hinten liegenden Schwerpunkt geflogen. Dazu hält die SUST fest:

"Diese gefährliche Situation war durch eine mangelhafte Flugvorbereitung und durch Fehler in einer Software von Ju-Air zustande gekommen."

Die Kernaussage des Berichtes lässt sich mit einem Satz zusammenfassen: Riskantes und regelwidriges Verhalten von Piloten stand bei Ju Air seit Jahren augenscheinlich an der Tagesordnung, die Ju Air selbst unternahm zu wenig, um diese riskanten Praktiken zu unterbinden.

"Die Flugbesatzung der verunfallten Junkers Ju 52/3m g4e war sich nachweislich gewohnt, anerkannte Regeln für einen sicheren Flugbetrieb zu missachten und hohe Risiken einzugehen, was zur beschriebenen Flugtaktik geführt hat. Diese Gewohnheit stellt deshalb einen direkt zum Unfall beitragenden Faktor dar."
Der SUST-Bericht

Schwierige Ermittlungen
Die Unfallermittlung gestaltete sich in mehrfacher Hinsicht schwierig.Weil an Bord der 1939 gebauten HB-HOT weder Flugdatenschreiber noch ein Stimmenrekorder im Cockpit zur Verfügung standen, konzentrierten sich die Ermittlungen auf das Wrack selbst sowie die Telefone und Kameras der getöteten Passagiere. Ein Teil davon konnte ausgelesen werden, die Daten wurden anschließend von Experten rekonstruiert.

Somit ergab sich für die Experten der SUST folgendes Bild.

Der Flug des Flugzeuges Junkers Ju 52/3m g4e, eingetragen als HB-HOT, am 4. August 2018 verlief nach dem Start in Locarno zunächst ereignislos über die Riviera und das Bleniotal in Richtung der Greinaebene. Die in der Luftfahrtkarte als "zu meidende Zone" eingezeichnete Landschaftsruhezone im Bereich der Greinaebene wurde in einer Höhe von 120 bis 300 m über Grund überflogen, was auf eine wenig rücksichtsvolle Beachtung dieses Gebiets durch die Flugbesatzung schließen lässt, hält die SUST fest.

"Hierzu ist anzumerken, dass es bereits in den Jahren vor dem Unfall zu Reklamationen aus der Bevölkerung kam, weil Flugzeuge der Ju-Air Wildtierschutzgebiete in tiefer Höhe überquert hatten. In der Folge hatte das Bundesamt für Zivilluftfahrt vom Flugbetriebsunternehmen entsprechende Sensibilisierungs- und Schulungsmaßnahmen verlangt, die aber offensichtlich zumindest auf die beiden Piloten A und B keine Wirkung hatten."
Der SUST-Bericht

Einige Minuten später überquerte das Flugzeug in der Region Ilanz mit einem nordöstlichen Kurs die Surselva und führte zunächst eine relativ enge Kurve nach links aus. Dieses Manöver brachte es über Ruschein (GR), wo eine Bekannte der Flugbegleiterin wohnte. Die Flugbegleiterin hatte wenige Minuten vorher über ihr Mobiltelefon eine Textnachricht an die Bekannte abgesetzt und angekündigt, dass die Ju 52 in Kürze Ruschein überfliegen werde. Es liegt deshalb nahe, dass das auch vom Boden aus auffallende Flugmanöver auf diese Ankündigung zurückzuführen ist. In dieser Phase befand sich die HB-HOT in einem Steigflug und erreichte über dem Gebiet Nagens mit 2833 m/M ihre größte Flughöhe auf ihrem letzten Flug.

Es fällt auf, dass die Flugbesatzung das Flugzeug kurz nach dem Vorbeiflug am Berghaus Nagens mit einer Geschwindigkeit führte, die über längere Zeit nur noch rund 140 km/h über Grund betrug. Berücksichtigt man den in dieser Phase herrschenden Gegenwind, so bewegte sich das Flugzeug mit ungefähr 180 km/h wahrer Fluggeschwindigkeit. Damit lag die Fluggeschwindigkeit beim Anflug auf den Talkessel südwestlich des Piz Segnas ungefähr 44 % über der Abrissgeschwindigkeit (Stall-Speed).

"Da während des bisherigen Fluges bereits Turbulenz aufgetreten war und für die Passüberquerung eine Kurve, verbunden mit einer höheren Abrissgeschwindigkeit, notwendig wurde, war diese Sicherheitsmarge zu gering."
Der SUST-Bericht

Dazu kommt, dass das Flugzeug bereits in dieser Phase eine tendenziell geringe Überhöhung von weniger als 200 Meter gegenüber dem zu überquerenden Segnespass aufwies, was verbunden mit dieser tiefen Geschwindigkeit eine riskante Ausgangslage für den weiteren Flugverlauf darstellte.

Diese Situation verbesserte sich nicht, obwohl die Geschwindigkeit kurzfristig um rund 50 km/h bis gegen 230 km/h wahrer Fluggeschwindigkeit anstieg, weil dieser Geschwindigkeitszuwachs nicht von einer Leistungserhöhung herrührte. Dieser resultierte vielmehr aus einem leichten Sinkflug um rund 80 Meter, der die Überhöhung des Flugzeugs gegenüber dem Segnespass auf rund 115 Meter verringerte. Der Pass stellt die tiefste Stelle der Bergkette dar, die den Talkessel begrenzt. Aufgrund der topografischen Enge dieses Übergangs müssen für eine sichere Überquerung der entsprechenden Krete deutlich größere Geländehöhen als die Passhöhe in die Wahl des Flugweges einbezogen werden.Durch eine Leistungserhöhung auf allen drei Motoren um je ungefähr 40 Umdrehungen pro Minute stieg die Maschine daraufhin um etwa 25 Meter auf 2767 m/M und wies damit wieder rund 140 m Überhöhung gegenüber dem Segnespass auf. Gleichzeitig verringerte sich aber die wahre Fluggeschwindigkeit der HB-HOT ge-gen 200 km/h und der herrschende Gegenwind nahm laufend ab.

Missachtung elementarer Regeln der Gebirgsfliegerei
Kurz darauf flog die HB-HOT in den Talkessel südwestlich des Piz Segnas ein und wurde von diesem Zeitpunkt an von der Flugbesatzung annähernd in der Talmitte auf einem nordnordöstlichen Kurs gesteuert. Mit dieser Flugwegwahl wollte die Flugbesatzung möglicherweise den Passagieren eine gute Sicht auf das Martinsloch, eine bekannte geologische Sehenswürdigkeit, gewähren.

"Aufgrund der geringen Flughöhe und der Enge des Talkessels war nun keine sichere Umkehrkurve oder eine andere Flugwegwahl als über die Krete des Segnespasses mehr möglich. Es gehört zu den elementaren Grundsätzen des Gebirgsfluges, dass stets die Möglichkeit für einen alternativen Flugweg oder eine Umkehrkurve bestehen muss."
Der SUST-Bericht

Indem die Flugbesatzung auf diese sicherheitsrelevanten Voraussetzungen verzichtete, schuf sie in Verbindung mit der geringen Flughöhe gegenüber dem zu überquerenden Pass eine hochriskante Situation, die keine Toleranz gegenüber weiteren Fehlern, Störungen oder Einflüssen von außen mehr aufwies. Damit stellt diese Art der Flugführung eine kausale Voraussetzung für den weiteren Ablauf des Ereignisses dar.

Wie die Rekonstruktion des Flugweges und der Windbedingungen zeigt, begann das Flugzeug beim Vorbeiflug an den Tschingelhörnern während einiger Sekunden durch Abwinde, die eine Vertikalgeschwindigkeit von 2 bis 5 m/s aufwiesen,abzusinken. Derartige Abwinde in diesem Bereich des Talkessels konnten durch die umfangreichen meteorologischen Abklärungen nachgewiesen werden. Sie stellen ein nicht außergewöhnliches Phänomen im Gebirge dar. Wie die Videoaufnahmen belegen, leitete die Flugbesatzung während dieses Absinkens und als sich das Flugzeug ungefähr querab des Martinslochs befand, eine Rechtskurve ein und führte anschließend einen Kurvenwechsel nach links durch. Die wahre Fluggeschwindigkeit betrug dabei ungefähr 180 km/h und die Winkeldifferenz zwischen Längslagewinkel und Flugbahnwinkel nahm während der Rechtskurve auf rund 15 Grad zu.In dieser Phase wurde die Leistung der Motoren geringfügig reduziert, wobei die Charakteristik der Regelungsweise nahelegt, dass die Flugbesatzung daran war, die drei Motoren zu synchronisieren.

Gleichzeitig erhöhte sich der Längslagewinkel des Flugzeuges weiter und die Flugbahn wurde zunehmend steiler gegen unten.Es ist denkbar, dass aufgrund der Beschäftigung mit den Motoren und der Perspektive, die ein einfaches Erkennen des Absinkens erschwerte, der Längslagewinkel durch die Flugbesatzung unbewusst vergrößert wurde, um dies zu kompensieren. Zudem begünstigte die Lage des Schwerpunktes außerhalb der hinteren Begrenzung diesen Vorgang und machte das Flugzeug instabiler um die Querachse, was einen direkt zum Unfall beitragenden Faktor darstellt.

Erster (teilweiser) Strömungsabriss, Crew nutzte Leistungsreserven der Motoren nicht
Nun nahm das Flugzeug eine Sinkgeschwindigkeit von rund 6 m/s an, die in der Folge weiter zunahm, was aufgrund der Analyse von Fluglage, Geschwindigkeit und der Strömungsverhältnisse im Talkessel südwestlich des Piz Segnas nicht mehr einem Abwind zugerechnet werden kann. Aufgrund des hohen Längslagewinkels und der deutlich nach unten weisenden Flugbahn ist es auch ausgeschlossen, dass dieser Sinkflug von der Flugbesatzung durch das Höhensteuer bewirkt wurde. Vielmehr kann daraus geschlossen werden, dass sich das Flugzeug in einem Flugzustand befand, in dem die Luftströmung am Tragflügel zumindest teilweise abgerissen war. Dazu ist festzuhalten, dass ein Strömungsabriss unabhängig von der Geschwindigkeit auftritt, wenn der kritische Anstellwinkel des Flügelprofils überschritten wird.

Darstellung des Flugweges - Foto: SUST
Foto: SUST

Dieses Abreißen der Strömung (stall) kann aerodynamisch wie folgt erklärt werden: Die HB-HOT war zunächst durch ein Abwindfeld in einen Sinkflug gebracht worden. Der Sinkflug im Abwind, der durch einen zunehmenden Längslagewinkel teilweise kompensiert wurde, führte zu einem Flugzustand nahe am maximalen Anstellwinkel. In dieser Fluglage genügte die zusätzliche Erhöhung des Anstellwinkels beim Einfliegen in einen mehr oder weniger starken Aufwind, um die Strömung zumindest teilweise abreißen zu lassen. In einem anhaltenden oder langsam abnehmenden Abwind wäre diese Entwicklung nicht zu erwarten gewesen.Die festgestellten Strömungsverhältnisse im Talkessel weisen darauf hin, dass das Flugzeug aus dem Abwindfeld in ein Aufwindfeld geriet. Ein Wechsel der Vertikalkomponente des Windvektors von 2 bis 5 m/s Sinken auf 3 bzw. 0 m/s Steigen reichte aus, dass der kritische Anstellwinkel überschritten wurde (vgl. Abbildung 22 und Abbildung 23). Wie sowohl die Messungen als auch die Strömungsberechnung gezeigt haben, waren auch größere Scherwerte ohne weiteres möglich. Entsprechend turbulente Bedingungen im Gebirge sind nicht außergewöhnlich und werden beim Fliegen in Geländenähe zu einem Risiko.

Zu geringe Geschwindigkeitsreserve
Es gehört deshalb auch zu den elementaren Grundsätzen des Gebirgsfluges, dass die Fluggeschwindigkeit und damit die Energie des Flugzeuges bei turbulenten Bedingungen und bei Annäherung an das Gelände erhöht werden muss, damit es durch Windscherungen nicht zu einem, wenn auch meist nur kurzfristigen, Strömungsabriss kommen kann. Dabei muss beachtet werden, dass das Flugzeug durch Böen oder Ruderausschläge nicht überlastet wird, so dass sich die einfach zu berechnende Manövergeschwindigkeit als optimale Geschwindigkeit anbietet.Das Flugzeug HB-HOT wies in dieser Phase, als es in die Windscherung geriet, eine wahre Fluggeschwindigkeit von ungefähr 180 km/h auf, die bei den herrschenden Bedingungen rund 55 km/h oder 44 % über der Abrissgeschwindigkeit lag.

"Eine solche Geschwindigkeitsreserve ist bei der im Gebirge üblichen Turbulenz zu gering."
Der SUST-Bericht

Nachweislich hat die Flugbesatzung die vorhandene Leistungsreserve der Motoren nicht genutzt, um konsequent eine Geschwindigkeit im Bereich der Manövergeschwindigkeit zu erreichen, die bei den vorliegenden Rahmenbedingungen 197 km/h wahre Fluggeschwindigkeit betrug. Kann die Manövergeschwindigkeit im Horizontalflug nicht erreicht werden, was bei Flugzeugen mit einem relativ großen Masse-Leistungs-Verhältnis möglich ist, so muss sie im Sinkflug angestrebt werden. Dies wiederum setzt voraus, dass vorgängig vorausschauend eine genügend große Höhenreserve geschaffen wurde. In jedem Fall muss beim Fliegen im Gebirge einem sicheren Energiezustand des Flugzeuges größte Beachtung geschenkt werden.

"Im vorliegenden Fall befolgte die Flugbesatzung diesen wichtigen Grundsatz nicht, was sich unter anderem auch dadurch zeigt, dass sie zu einem Zeitpunkt, als sich das Flugzeug zu tief und zu langsam im Talkessel bewegte, die Leistung der drei Motoren noch zusätzlich reduzierte. Die Wahl einer bezüglich des Flugweges gefährlich tiefen Fluggeschwindigkeit stellt deshalb einen weiteren kausalen Faktor für die Entstehung des Unfalls dar."
Der SUST-Bericht

Besatzung bemerkte Strömungsabriss nicht
Die Videoaufnahmen zeigen weiter, dass sich während dieses Flugzustandes, der einem Sackflug glich, die Querlage nach links stetig vergrößerte. Als diese rund 30 Grad erreicht hatte, erfolgte ein zunächst geringer und dann ein deutlicher Korrekturausschlag des linken Querruders nach unten, was ein Rollmoment nach rechts bzw. entgegen der Rollbewegung bezweckte. Daraus kann geschlossen werden, dass die Flugbesatzung damit die Linkskurve bei einer konstanten Querlage stabilisieren wollte und wahrscheinlich den eingetretenen Strömungsabriss noch nicht wirklich wahrgenommen hatte. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Flugzeug auf rund 2725 m/M und wies damit noch eine Überhöhung von rund 100 m gegenüber dem Segnespass auf. Die Rollbewegung nach links verlangsamte sich aber nicht und die Querlage nahm weiter zu. Nun wurden die Querruder in Neutralstellung gebracht bzw. leicht in eine Lage für eine Linkskurve ausgeschlagen. Gleichzeitig begann sich die Nase des Flugzeuges nach unten zu senken.

Laut SUST lässt sich das wie folgt erklären:

  • Nachweisbar befand sich das Flugzeug in dieser Phase in einem Flugzustand, der nicht mehr kontrollierbar war bzw. in dem die Rollbewegung nach links zumindest momentan, nicht beendet werden konnte.
  • Die nicht kontrollierte Rollbewegung des Flugzeuges kam zustande, weil am linken Flügel, der auf der Kurveninnenseite lag, die Strömung – zumindest in einem größeren Masse als am rechten Flügel – abgerissen war, was zu einer asymmetrischen Auftriebsverteilung führte. Auch die turbulente Luftströmung kann grundsätzlich asymmetrisch gewirkt haben. Dabei produzierte der rechte Flügel mehr Auftrieb als der linke Flügel und ließ das Flugzeug weiter nach links rollen.
  • Die Junkers Ju 52/3m g4e von Ju-Air sind dafür bekannt, dass sie bei einem Strömungsabriss während des Kurvenfluges auf die Kurveninnenseite abkippen, was bedeutet, dass die Querlage des Flugzeuges weiter zunimmt, der Längslagewinkel sich verkleinert und der Kurvenradius geringer wird.
  • Soll der Strömungsabriss beendet und das abkippende Flugzeug wieder unter Kontrolle gebracht werden, so muss der Anstellwinkel verkleinert werden. Zu diesem Zweck ist der Ausschlag des Höhensteuers zu verringern und das Querruder in Richtung des Abkippens zu bewegen. Keinesfalls darf mit Gegenquerruder versucht werden, die Rollbewegung zu stoppen, da durch das nach unten ausgeschlagene Querruder am kurveninneren Flügel dessen Anstellwinkel zusätzlich vergrößert wird, was ein erneutes Anliegen der Strömung an der Tragfläche erschwert.
  • Im vorliegenden Fall reagierten die erfahrenen Piloten richtig und versuchten offenbar, das Flugzeug durch ein Nachführen der Steuer in Richtung der Abkippbewegung wieder steuerbar zu machen.

Zu geringe Höhe machte Abfangen unmöglich
Damit war grundsätzlich der Abfangvorgang eingeleitet, der allerdings aufgrund des geringen Abstands zum Gelände nicht mehr erfolgreich durchzuführen war, wie eine entsprechende Simulation gezeigt hat. Die flugmechanischen Abläufe bis zur Kollision des Flugzeuges mit dem Boden können wie folgt erklärt werden: Wie Videoaufnahmen aus dem Flugzeug belegen, traten auf der nun zunehmend steiler werdenden Flugbahn niederfrequente Schwingungen (buffeting) des Flugzeuges auf, was auf ein erneutes Abreißen der Strömung an der Tragfläche oder am Höhenleitwerk hindeutet. Die letzte Fotografie des Flugzeuges vor dem Aufprall zeigt, dass die Tragflächen weniger als im horizontalen Geradeausflug nach oben durchgebogen waren und das Höhensteuer etwa auf die Hälfte des Vollausschlages nach oben ausgelenkt war. Das Seitensteuer war leicht nach rechts ausgeschlagen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Flugzeug rund 108 Meter über Grund. Etwas mehr als zwei Sekunden später prallte es nach einer Rollbewegung um weitere 186° nach links in einer senkrechten Fluglage und mit annähernd senkrechter Flugbahn bei einer Geschwindigkeit von rund 200 km/h auf den Boden. Diese Werte weisen ebenfalls darauf hin, dass während des Abfangvorgangs bei einer Fluggeschwindigkeit zwischen 170 und 200 km/h der kritische Anstellwinkel durch eine erhöhte Normalbeschleunigung (accelerated stall) nochmals überschritten wurde. Weiter wird klar, dass zum Zeitpunkt, als die letzte Fotografie der HB-HOT entstand, eine ausgeprägte einseitige Auftriebsverteilung vorlag, die in der Endphase des Fluges zu einer Rollrate von gegen 90° pro Sekunde geführt hat.Sowohl die Analyse der Motorgeräusche als auch die forensische Untersuchung der Bedienelemente der Motoren zeigen, dass die Vollgasbegrenzung während der letzten Phase des Fluges eingeschaltet war. Dies bedeutet, dass die Flugbesatzung die Motoren nicht mehr auf die höchstmögliche Leistung gebracht hatte

Schwere Verfehlungen der Piloten
Die SUST verglich im Rahmen ihrer Ermittlungen die Handlungen der erfahrenen Piloten mit den Grundsätzen der Gebirgsfliegerei und kam zu einem vernichtenden Urteil:

"Diese Flugwegwahl im Widerspruch zu den elementaren Grundsätzen des Gebirgsfluges, wie sie jedem Piloten bereits in der Basisausbildung vermittelt werden. Eine zentrale Regel dabei lautet, dass während des gesamten Fluges je-derzeit ein oder mehrere Auswege bestehen müssen, falls überraschend eine neue Situation eintritt. Konkret bedeutet dies, dass jederzeit genügend Manövrierraum für eine Umkehrkurve oder einen alternativen Flugweg bestehen muss, wenn zum Beispiel das Flugzeug von Abwinden erfasst wird, ein technisches Problem auftritt oder plötzlich Hindernisse wie Wolken oder andere Luftfahrzeuge auftauchen."

Regelmäßige hochriskante Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen
Dieses risikoreiche Verhalten der beiden Flugzeugführer lässt sich laut SUST letztlich aus der Kombination von fliegerischer Ausbildung und einer Entwicklung der beiden Piloten in der Betriebskultur von Ju-Air nachvollziehen, die schließlich zu einer Gewöhnung an solche Situationen führte. In den Monaten und Jahren vor dem Unfallflug sind verschiedene sicherheitskritische Flüge dokumentiert, bei denen die Piloten A und B einzeln oder zum Teil gemeinsam sicherheitsrelevante Vorgaben nicht einhielten und Regelbrüche begingen:

  • Auf dem Flug von Dübendorf nach Locarno am 3. August 2018 führte Pilot B das Flugzeug Junkers Ju 52/3m g4e, eingetragen als HB-HOT, mehrfach riskant nahe an Bergflanken vorbei oder flog es unter der vorgeschriebenen Mindestflughöhe.
  • Am 6. Juli 2018 überflog Pilot A als verantwortlicher Pilot zusammen mit dem als Copilot fungierenden Piloten B im Flugzeug Junkers Ju 52/3m g4e, eingetragen als HB-HOT, das Stadtgebiet von München in einer Höhe, die erheblich unterhalb der erforderlichen Mindestflughöhe lag.
  • Die analysierten Flüge von Ju-Air zwischen April 2018 und dem Unfalltag belegen, dass Pilot A bei mindestens sechs Flügen als Besatzungsmitglied fungiert hat, während deren das Flugzeug hochriskant geführt wurde. Bei vier dieser Flüge war er zusammen mit dem Piloten B eingesetzt.
  • Die analysierten Flüge von Ju-Air zwischen April 2018 und dem Unfalltag belegen, dass Pilot B bei mindestens acht Flügen als Besatzungsmitglied eingesetzt war, während deren das Flugzeug hochriskant geführt wurde. Bei vier dieser Flüge war er zusammen mit dem Piloten A eingesetzt
  • Am 6. Juli 2013 überflog Pilot B als verantwortlicher Flugzeugführer zusammen mit dem Piloten A als Copilot mit dem Schwesterflugzeug Junkers Ju 52/3m g4e, eingetragen als HB-HOP, die Krete des Segnespasses auf hochriskante Weise. Dabei näherte er sich im Steigflug und ohne dass die Möglichkeit einer Umkehrkurve bestand, der Krete und konnte diese schliess-lich mit einer Überhöhung von lediglich 30 m queren.

"Wie ein roter Faden zieht sich durch diese Ereignisse die Tendenz der beiden Besatzungsmitglieder, Regeln für einen sicheren Flugbetrieb als für sich nicht verbindlich anzusehen oder hohe Risiken einzugehen. Dieses Verhalten ist durch weitere Beispiele belegt."
Der SUST-Bericht

Betrieb bei Ju Air immer wieder "hochriskant"
Die Untersuchung der SUST wertete die Radardaten von 216 der insgesamt über 400 Flüge aus, die von Ju-Air von April 2018 bis zum Unfalltag durchgeführt wurden. Dabei wurde insbesondere das Vorgehen der Flugbesatzungen im Gebirgsflug in Bezug auf eine sichere Flugführung analysiert, wobei mit Blick auf die Eigenschaften und den technischen Zustand der Flugzeuge der Ju-Air vor allem Flugphasen, die für längere Zeit keine Möglichkeit einer Umkehrkurve oder eines alternativen Flugweges boten, als hochriskant eingestuft wurden. Mindestflughöhen alleine sind beim Fliegen im Gebirge ein wenig taugliches Mittel, um Gefahrensituationen beurteilen zu können, weil immer auch der Energiezustand und die Leistungsfähigkeit eines Luftfahrzeuges berücksichtigt werden müssen.

Eine Maschine der Ju Air im Flug, Symbolbild - Foto: MK / Austrian Wings Media Crew

So wurde denn auch bei der Auswertung der Flüge stets eine Beurteilung der Gesamtsituaion vorgenommen.Im Rahmen dieser Flugauswertung wurden zahlreiche Situationen festgestellt, bei denen die Flugzeuge der Ju-Air im Gebirge in einem Höhenbereich unter 300 Meter über Grund betrieben wurden. Solche Situationen können in einem sicherheitsbewussten Flugbetriebsunternehmen erfasst und analysiert werden, damit eine risikoarme Flugführung im Gebirge sichergestellt werden kann. Im Rahmen dieser Untersuchung wurden solche Ereignisse allerdings nur statistisch ausgewertet. Im Detail untersucht wurden hingegen 44 Situationen, die im Rahmen von 36 Flügen festgestellt werden konnten. In diesen Fällen bestand eine hohe Unfallwahrscheinlichkeit, weil die Flugbesatzungen hohe Risiken eingingen.

"Innerhalb der Oldtimer-Szene war etlichen Piloten bekannt, dass es bei Ju Air immer wieder riskante Situation gab. Aber es schien, als hätte diese Airline Narrenfreiheit bei den Schweizer Behörden gehabt. Ich selbst wäre dort nie eingestiegen. Tragisch, dass erst ein Flugzeug abstürzen und 20 Menschen sterben mussten, ehe diese ganzen Missstände öffentlich wurden."
Ein Oltimer-Pilot gegenüber Austrian Wings

Die Analyse dieser Situationen im Flugbetrieb von Ju-Air zeigt, dass häufig Flugwege gewählt wurden, die bei Auf- und Abwinden oder technischen Störungen keinen Ausweg oder keine Umkehr mehr ermöglicht hätten. Auch wurden Flughöhen gewählt, die bei solchen Einschränkungen kaum Handlungsspielraum mehr geboten hätten. Weiter wurde festgestellt, dass die Flugbesatzungen oft sehr nahe an Felswänden und Bergflanken vorbeiflogen. Damit gingen die betreffenden Flugbesatzungen systematisch einfach zu vermeidende Risiken ein und gefährdeten damit Menschen und Material. Da kein Zweifel darüber bestehen kann, dass den erfahrenen und gut qualifizierten Besatzungen des Flugbetriebsunternehmens die elementaren Grundsätze des Gebirgsfluges und auch die allgemeinen luftrechtlichen Bestimmungen für den Sichtflug bekannt waren, müssen solche Verhaltens-weisen im Sinne des durch das Flugbetriebsunternehmen und das Bundesamt für Zivilluftfahrt angewendeten Schemas der Just Culture als waghalsige Verstöße(reckless violation) eingestuft werden, schlussfolgert die SUST.

Selbst auf Checkflügen sei es zu Regelverstößen gekommen.

(red CvD / HP / SUST)