Reportagen

Interview zum Achensee-Absturz mit dem ehemaligen Leiter der Flugpolizei

Werner Senn - Fotos, sofern nicht anders angegeben: Austrian Wings Media Crew

Vor zehn Jahren, am 30. März 2011, stürzte ein EC 135 der Flugpolizei in den Achensee, vier Menschen starben. Bis heute ist das Unglück nicht abschließend aufgeklärt. Austrian Wings (AW) sprach dazu exklusiv mit dem langjährigen Leiter der Flugpolizei, Mag. Werner Senn (WS), selbst Einsatzpilot und studierter Jurist. Das Interview fand aufgrund der Corona-Pandemie in schriftlicher Form statt und wurde von Mag. Senn vor Veröffentlichung autorisiert.

AW: Herr Magister Senn, wann und wie haben Sie vom Absturz der OE-BXF in den Achensee erfahren?

WS: Ich wurde vom Landespolizeidirektor verständigt.

AW: Was haben Sie daraufhin getan?

WS: Ich bin mit dem damaligen Gruppenleiter und späteren Generaldirektor, dem Ressortsprecher und dem Leiter der Flugschule zum Unglücksort geflogen.

Die verunglückte OE-BXF, aufgenommen 2008 auf der Flugeinsatzstelle Innsbruck

AW: Sie kannten den verunglückten Piloten Markus Pumpernick über viele Jahre. Wie würden Sie ihn beschreiben?

WS: Chefinspektor Pumpernick war ein kompetenter und erfahrener Einsatzpilot. Er hatte bis dahin mehr als 2.500 Flugstunden und fast 5.000 Starts und Landungen absolviert. Ich konnte es einfach nicht fassen, als ich es erfahren habe.

Chefinspektor Markus Pumpernick im Cockpit eines Hubschraubers; er galt als ausgesprochen besonnener und defensiv agierender Pilot - Foto: FEST Innsbruck

AW: Neben Experten der Exekutive waren ja auch zivile Ermittler vor Ort. Soweit wir recherchiert haben, soll es hier Meinungsverschiedenheiten gegeben haben.

WS: Die zivilen Ermittler hatten keinerlei Hubschrauberpilotenausbildung. Das ist aus meiner Sicht so, als würde man zu einem Verkehrsunfall einen Sachverständigen entsenden, der selbst keinen Führerschein besitzt und noch nie ein Fahrzeug gelenkt hat. Außerdem wurde von einem Ermittler, der auch nach acht Jahren den Abschlussbericht verfasst hat, sofort die Unfallursache erklärt.

AW: Inwiefern?

WS: Einer der Ermittler der zivilen Kommission erklärte noch am Unfallort, dass Showfliegerei und Glassy Water- Effekt seine Theorie zur Unfallursache sei.

AW: Wie bitte?

WS: Ja, diese unfassbare Aussage ist vor Zeugen gefallen und es sei nur noch angemerkt, dass zu diesem Zeitpunkt erst ein Toter geborgen war, und das Wrack noch in 110 Metern Tiefe lag und noch keinerlei Auswertung des UMS (Flugschreiber) oder der Triebwerke vorlag. Eine solche Aussage widerspricht jeglicher Grundlage und  deckt sich keinesfalls mit dem Bild eines objektiven und unabhängigen Sachverständigen.

AW: Wie ging die Untersuchung dann weiter?

WS: Die Flugpolizei hat mit außenstehenden und eigenen Experten, darunter Techniker, Einsatzpiloten und Fluglehrer, den Unglücksflug ganz genau rekonstruiert.

AW: Mit welchem Ergebnis?

WS: So unbefriedigend es ist, man wird die Absturzursache wohl nie vollständig aufklären können.

AW: Weshalb nicht?

WS: Der Helikopter hatte zwar ein UMS (Flugschreiber), aber kein Stimmenaufzeichnungsgerät an Bord. Das haben wir nach dem Unglück übrigens geändert. Eine aufgezeichnete Kommunikation im Cockpit hätte das Rätsel vermutlich gelöst.

AW: Trotzdem haben Sie wichtige Erkenntnisse gewinnen können?

WS: Ja, denn einerseits waren Aufzeichnungen aus dem GPS-System vorhanden, das Flugprofil konnte so rekonstruiert werden, und andererseits konnten technische Probleme an den essentiellen Bauteilen wie den Triebwerken, dem Haupt- sowie dem Heckrotor ausgeschlossen werden.

AW: Welche Schlussfolgerungen hat die Kommission der Flugpolizei daraus gezogen?

WS: Wir gehen aufgrund des Flugprofils von drei Möglichkeiten aus: Flicker Vertigo das den Piloten beeinträchtigt hat, Vogelschlag oder eine andere akute gesundheitliche Beeinträchtigung des Piloten.

AW: Eine solche gesundheitliche Beeinträchtigung des Piloten wurde bei der Autopsie aber nicht feststellt.

WS: Da haben Sie Recht, doch es gibt auch akute gesundheitliche Beeinträchtigungen, die nach dem Tod nicht mehr nachweisbar sind. Das wurde mir persönlich von einem Gerichtsmediziner bestätigt und Ihr Magazin gelangte im Zuge der vor einem Jahr veröffentlichten Reportage zum Unglück völlig unabhängig ja ebenfalls zu dieser Erkenntnis.

AW: Der Helikopter hatte zeitweise Sinkraten von 4.000 bis 5.000 Fuß pro Minute. Sowohl die zivilen Ermittler als auch einige Journalisten, die allerdings ebenfalls keine qualifizierten Einsatzpiloten sind und mitunter selbst von grundlegenden Dingen der Luftfahrt wenig Ahnung zu haben scheinen, sind der Meinung, dass der Pilot das Flugprofil absichtlich geflogen habe. Von "Showfliegerei", "wilden Manövern" und sogar, ich zitiere aus einem der Zeitungsberichte, "Absturzübungen" war da die Rede.

WS: Völliger Unsinn. Was bitte sollen "Absturzübungen" überhaupt sein? Schon daraus ergibt sich aus meiner Sicht, dass die besagten Akteure fachlich überhaupt nicht qualifiziert waren beziehungsweise sind, den Absturz zu untersuchen respektive aus den vorliegenden Fakten Rückschlüsse zu ziehen.

AW: Könnten Sie das präzisieren, bitte?

WS: Sehr gerne. Wir müssen hier mehrere Faktoren näher betrachten. Zum Einen die Persönlichkeit des Piloten, zum anderen die geflogenen Sinkraten und das Flugprofil selbst.

AW: Beginnen wir bitte mit Chefinspektor Pumpernick.

WS: Gerne. In jeder seriösen Unfallermittlung widmen sich die Ermittler der Persönlichkeit des Piloten besonders intensiv. Sie sehen sich seine fliegerische Vergangenheit an, prüfen nach ob es Beschwerden hinsichtlich Verstößen gegen Sicherheitsbestimmungen oder Beschwerden von Kollegen wegen riskanter Manöver gab. Anmerkung der Redaktion: So kamen die Schweizer Ermittler, die den Absturz einer Ju 52 im Jahr 2018 mit 20 Todesopfern untersuchten, unter anderem zu der Erkenntnis, dass sich sowohl die Unglückspiloten als auch mehrere Kollegen regelmäßig "hochriskant" verhalten hatten. Auch nach dem Absturz einer B-52 in den USA im Jahr 1994 kam im Zuge der Unfallermittlungen ans Licht, dass der verantwortliche Pilot seit Jahren immer wieder hohe Risiken eingegangen war und gegen die Regeln für einen sicheren Flugbetrieb verstoßen hatte. Die umfassende Analyse der Persönlichkeit eines Piloten und seiner fliegerischen Vorgeschichte ist bei Unfallermittlungen daher unverzichtbar.

AW: Lassen Sie mich ganz direkt fragen: Ist Chefinspektor Pumpernick als Einsatzpilot jemals durch Regelverstöße oder riskante Flugmanöver aufgefallen?

WS: Nein, ganz im Gegenteil. Wir haben intern sogar eine anonymisierte Befragung unserer Flight Operatoren durchgeführt. Es gab keinerlei Indizien, dass Kollege Pumpernick jemals in seiner fliegerischen Laufbahn zu riskanten Manövern geneigt hätte. Wörtlich sagten Besatzungsmitglieder, die regelmäßig mit ihm geflogen sind, dass er immer "jegliche Gefahr vermiedet hat". Markus Pumpernick war von der Persönlichkeit her ruhig und ausgeglichen. Der Kollege war zudem Computerprogrammierer und IT-Fachmann, eher introvertiert und defensiv, das absolute Gegenteil eines Showpiloten. Schon aufgrund seiner gesamten Persönlichkeit ist daher die Wahrscheinlichkeit dafür, dass er absichtlich "wild" geflogen sein soll, gleich null. Auch am Unfalltag wurde der Flugbetrieb von ihm umsichtig geplant. So verweigerte Chefinspektor Pumpernick etwa die Mitnahme eines weiteren Kollegen aus Leistungsgründen. Ein weiterer klarer Beleg dafür, dass der Kollege zu keinem Zeitpunkt unnötige Risiken einging, sondern stets korrekt und verantwortungsbewusst agierte.

AW: Würde derartige Sinkraten überhaupt jemand absichtlich fliegen?

Pilot der Flugpolizei am Steuer eines EC 135 (H135)

WS: Aus meiner Erfahrung und auch nach intensiven Gesprächen mit anderen Piloten aus dem polizeilichen und zivilen Bereich kann ich das ganz klar verneinen. Eine solche Sinkrate von 4.000 bis 5.000 Fuß pro Minute, noch dazu kombiniert, mit den im Abschlussbericht ermittelten Längs- und Querneigungswinkeln, würde weder ich noch irgendein anderer mir bekannter Pilot jemals absichtlich fliegen.

AW: Haben Sie es jemals probiert?

WS: Im Zuge unserer internen Untersuchung haben wir den Unfallflug, soweit dies sicher möglich war, nachgestellt und dabei mit zwei Piloten am Doppelsteuer auch versucht diese Sinkrate zu reproduzieren. Bei etwas über 3.000 Fuß Sinkrate pro Minute haben wir das Manöver abgebrochen. Anmerkung der Redaktion: Es wurden am Tag des Unglücksfluges beim Abstieg des Helikopters und der Rechtskurve ein Kabinenquerlagewinkel von ca. 35° und ein Kabinennickwinkel von bis zu -32° erreicht. Bei diesem Manöver nahm die Fluggeschwindigkeit auf 135 kts GS zu und die Sinkrate erhöhte sich kurzfristig auf bis zu 4000 Fuß pro Minute.

AW: Weshalb?

WS: Unsere beiden Piloten - erfahrene Instruktoren - haben gesagt, dass sie eine noch höhere Sinkrate nicht mehr verantworten können. Es wäre aus ihrer Sicht einfach nicht mehr "safe" gewesen. Das ist ein deutliches Indiz dafür, dass Chefinspektor Pumpernick, ich möchte hier nochmals auf seine defensive und verantwortungsvolle Flugführung während seiner gesamten Karriere hinweisen, in irgendeiner Art und Weise massiv beeinträchtigt gewesen sein muss, denn vorsätzlich hätte er diese Sinkrate keinesfall geflogen. Davon bin ich absolut überzeugt. Was der zivile Bericht ebenfalls nicht berücksichtigt ist, dass einer der beiden Insassen aus dem hinteren Bereich der Kabine zum Zeitpunkt des Aufpralls gar nicht angeschnallt war. Niemand aber würde ohne triftigen Grund bei derartigen Flugmanövern den Gurt öffnen. Ebenfalls ein Hinweis darauf, dass an Bord ein Notfall eingetreten sein dürfte.

AW: Nun gibt es zwei sich widersprechende Berichte: Jenen der Flugpolizei, der von Flicker Vertigo, Vogelschlag oder eine andere akute gesundheitliche Beeinträchtigung des Piloten als Ursache spricht und in Fliegerkreisen weitgehend als plausibel gilt, und jenen der zivilen Kommission, die in den vergangenen Jahren immer wieder für massive Negativschlagzeilen sorgte, die von einem Pilotenfehler ausgeht. Wie geht es nun weiter?

WS: Wie Sie richtig sagen, ist für die meisten Piloten, auch im zivilen Bereich, ohnedies völlig klar, dass sich die österreichische Luftfahrt objektive Experten verdient, denen es wirklich um Unfallursachenforschung geht. Auch für das Innenministerium als Dienstgeber der Flugpolizei ist der Unfall nicht abschließend geklärt, weil der Bericht der zivilen Kommission einfach gravierende fachliche Mängel aufweist. Deshalb wurde noch Ende 2019 beschlossen, eine unabhängige internationale Expertenkommission einzusetzen, die den Unfall erneut untersucht. Da ich mich allerdings seit November des vergangenen Jahres im Ruhestand befinde, kenne ich den aktuellen Stand der Ermittlungen nicht. Es ist meines Erachtens jedoch davon auszugehen, dass die Covid-Pandemie die Arbeiten erheblich verzögert hat.

AW: Warum haben Sie sich anlässlich des zehnten Jahrestages dieser Tragödie zu diesem Interview entschlossen?

WS: Als Jurist geht es mir grundsätzlich um nachgewiesene Fakten, seriöse Ursachenforschung und eine Aufarbeitung im Sinne der Flugsicherheit. Es ist wichtig, dass man  aus Unfällen lernt um die Fliegerei noch sicherer zu machen. Das ist aber nur dann möglich, wenn ein fachlich fundierter Bericht vorliegt, der den tatsächlichen Ereignissen, soweit man sie rekonstruieren kann, gerecht wird. Es war mir daher wichtig, auf die vielen ungeklärten Punkte im Fall des Achensee-Absturzes, der vier verdienten Exekutiv-Kollegen das Leben gekostet hat, hinzuweisen. Man darf es sich als Unfallermittler nicht so einfach machen und mit dem Finger auf den noch am Unglückstag vorverurteilten toten Piloten zeigen, wenn so viele andere Faktoren völlig im Dunkeln liegen. Das haben sich meine ehemaligen Mitarbeiter nicht verdient.

AW: Weshalb haben Sie Austrian Wings als Gesprächspartner für dieses Interview ausgewählt?

WS: Ihr Magazin hat sich einen ausgezeichneten Ruf als seriöses Luftfahrtmedium erworben, das sowohl von Laien, anderen Journalisten als auch Experten gelesen und hoch geschätzt wird sowie über eine enorme Leserreichweite verfügt. Eine bessere Kombination kann es eigentlich nicht geben. Bitte machen Sie weiter so.

AW: Herr Magister Senn, wir danken für das Gespräch und die netten Abschlussworte.

WS: Sehr gerne, bleiben Sie gesund.

Zur Person
Magister Werner Senn, geboren 1958 in Zams, ist ehemaliger Profi-Skirennläufer, Flugretter des Innenministeriums, studierter Jurist und ausgebildeter Einsatzpilot. Bei der Lawinenkatastrophe von Galtür im Jahr 1999 fungierte Werner Senn als Einsatzleiter. Er leitete zudem die Geschicke der Flugpolizei von 2005 bis zu seiner Pensionierung im Oktober 2020. In seine Amtszeit fällt unter anderem die Modernisierung der Flugpolizei mit dem Muster EC 135. Ein ausführliches Portrait über Werner Senn finden Sie hier.

(red)