Reportagen

Ron Arad - seit 35 Jahren vermisst

Ron Arad - Foto: Israeli Air Force

Israel - die einzige stabile Demokratie nach westlichem Vorbild im Nahen Osten - musste seit seiner Gründung 1948 viele Opfer bringen, um seine Existenz zu sichern. Bis April 2020 waren fast 24.000 israelische Soldatinnen und Soldaten für ihr Land gefallen, das Schicksal etlicher Militärangehöriger ist bis heute ungeklärt - so wie jenes des F-4 Phantom-Besatzungsmitgliedes Ron Arad. Seit 35 Jahren suchen Familienangehörige und Freunde nach Antworten. Die Austrian Wings Chefredaktion beleuchtet aus aktuellem Anlass die Geschichte dieses jungen israelischen Familienvaters, der das ultimative Opfer brachte, um die Existenz seiner Heimat zu schützen. Denn auch aktuell muss Israel seine Existenz einmal mehr verteidigen - diesmal gegen die radikal-islamische Terrororganisation Hamas.

Ron Arad wurde am 5. Mai 1958 in Hod Hasharon geboren und trat im Alter von 20 Jahren seinen Dienst in der israelischen Armee an, wo er bis 1979 zum Waffensystemoffizier auf der legendären F-4 Phantom ausgebildet wurde. Er galt als sportlich, liebte unter anderem Fußball und Basketball.

Ron Arad liebte den Sport - Foto: Archiv

Kurz nach seiner Entlassung aus der Armee im Rang eines Hauptmannes begann Arad im Jahr 1985 ein Chemiestudium in Haifa. Gemeinsam mit seiner Frau Tami hatte er eine Tochter, Yuval. Wie alle Israelis, war auch Arad nach seiner aktiven Militärzeit Milizsoldat, der im Ernstfall jederzeit einberufen werden konnte. Und dieser Ernstfall trat und tritt in Israel aufgrund der besonderen geopolitischen Situation in der Region unglücklicherweise regelmäßig ein. Als der junge Familienvater 1986 tatsächlich zum Reservedienst einberufen wurde, hatte er gerade sein erstes Jahr an der Universität mit Auszeichnung abgeschlossen.

F-4 Phantom der israelischen Selbstverteidigungskräfte im Flug; eine solche Maschine flog auch Ron Arad am Tag seiner Gefangennahme - Foto: IDF

Am 16. Oktober flog die israelische Luftwaffe inmitten des libanesischen Bürgerkrieges einen Angriff auf Stellungen der Terrororganisation "PLO". In einer der eingesetzten F-4 Phantoms saßen Pilot Yishai Aviram und Waffensystemoffizier Ron Arad. Beim Auslösen der Waffen explodierte eine Bombe zu früh und beschädigte die Maschine der beiden Flieger schwer.

"Alles war zunächst in Ordnung. Wir identifizierten die Ziele und klinkten unsere Bomben aus. Plötzlich gab es ein schreckliches Geräusch und ich dachte, ich würde sterben. Dann verlor ich wohl das Bewusstsein und kam erst am Fallschirm hängend wieder zu mir."
Pilot Yishai Aviram in einem Interview mit dem Israel Air Force Youth Corps

Mittels Schleudersitz katapultierten sich Aviram und Arad aus dem brennenden Wrack und landeten mit ihren Fallschirmen am Boden. Doch damit waren sie noch lange nicht in Sicherheit, denn dort tobten schwere Kämpfe und als israelischer Soldat den Kämpfern der PLO oder der libanesischen Terrororganisation Hisbollah beziehungsweise den ebenfalls im Libanon operierenden iranischen Milizen in die Hände zu fallen, bedeutete so gut wie sicher den Tod.

F-16 Jets der IDF (Symbolbild) gaben den beiden abgeschossenen Kameraden am Boden Deckung - Foto: IDF

Den Abgeschossenen gelang es glücklicherweise, Funkkontakt zu den eigenen Streitkräften aufzunehmen. Mehrere Kampfjets gaben Aviram und Arad aus der Luft Deckung, während von Israel aus Bell AH-1 Cobra Helikopter der israelischen Luftstreitkräfte für eine Rettungsmission starteten.

"Wir warteten rund zwei Stunden. In dieser Zeit schossen die Terroristen auf mich, waren teilweise nur 30 Meter entfernt. Ich stand in Funkkontakt mit unseren F-16, gab die Position an die Piloten durch und bat sie, meine Angreifer unter Beschuss zu nehmen."
Pilot Yishai Aviram in einem Interview mit dem Israel Air Force Youth Corps

Als die erste Cobra eintraf, um Aviram und Arad zu retten, gab es massive technische Probleme - möglicherweise durch Beschuss vom Boden aus - und der Pilot musste umkehren: "Doch plötzlich funktionierten meine Systeme wieder und ich setzte die Mission fort", erinnerte sich der Helikopterpilot später in einem Interview mit dem Israel Air Force Youth Corps.

Ron Arads Pilot überlebte, weil es ihm gelang, sich an den Kufen eines Cobra-Helikopters der israelischen Selbstverteidigungskräfte festzuhalten - Foto: Archiv

Eine Landung mitten im Kampfgeschehen war nicht möglich und so hielt sich Aviram schließlich an den Kufen des Helikopters fest und wurde unter feindlichem Beschuss in Sicherheit gebracht - der spektakuläre Moment wurde von einem Fotografen festgehalten. 

"Ich hing mit meinen Armen an den Kufen, bis wir in Israel in Sicherheit waren. Ich fühlte mich trotzdem schrecklich, denn Ron war noch im Libanon und ich konnte nichts mehr tun."
Pilot Yishai Aviram in einem Interview mit dem Israel Air Force Youth Corps

Kein Kontakt zu Arad
Nach der Rettung des Piloten flog der Helikopter noch einmal zurück in den Libanon, um Ron Arad zu retten. Doch es gelang der Besatzung nicht mehr, Funkkontakt mit dem Vermissten herzustellen. Ob Arad zu diesem Zeitpunkt tot war, oder sich in Gefangenschaft befand, konnte niemand sagen.

Gefangennahme und Lebenszeichen
Später stellte sich heraus, dass Arad wohl von den schiitischen Amal-Milizen gefangen genommen und vor den jubelnden Massen auf den Straßen Sidons vorgeführt worden war. Noch nie zuvor war es der Amal gelungen, einen Soldaten der israelischen Streitkräfte lebend gefangen zu nehmen.

Zunächst sah alles nach einem möglichen "Happy End" aus. Denn aus Beirut meldete sich der Anführer der Miliz, ein gewisser Nabih Berri, und bot an, Arad freizulassen, wenn Israel dafür im Gegenzug mehr als 650 inhaftierte Kriminelle und Terroristen freilassen sowie drei Millionen Dollar Lösegeld für Arad zahlen würde.

Der damalige israelische Verteidigungsminister Jitzchak Rabin lehnte das jedoch vorerst ab. "Die Verhandlungen begannen erst später, nachdem die Regierung einen sehr umstrittenen Austausch mit der prosyrischen palästinensischen Miliz von Ahmad Djibril autorisiert hatte, bei dem 1.150 Terroristen, an deren Händen Blut klebte, aus israelischen Gefängnissen gegen drei israelische Soldaten freigelassen wurden", erklärt Eitan Haber, ehemaliger Berater Rabins, dessen Ablehnung gegenüber dem Magazin "Cicero".

Dieser Deal wurde in der israelischen Öffentlichkeit stark kritisiert. Haber weiter: "Wir wussten, dass Ron an einem sicheren Ort ist, wo er gut behandelt wurde. Daher dachten wir, dass wir genug Zeit hätten, um zu verhandeln. Wir haben Briefe und Fotos von Ron bekommen, die bestätigten, dass er gesund und am Leben war. Diese Dokumente bewiesen auch, dass wir Kontakt zu seinen Bewachern hatten. Rabin gab die Instruktion, weiterzuverhandeln, um den ‚Preis‘ für die Befreiung zu drücken. Niemand konnte sich vorstellen, was danach passierte.“

Seine Geiselnehmer zwangen Ron Arad, Videos aufzunehmen; Gefangenschaft und Folter haben deutliche Spuren an ihm hinterlassen - Foto: Archiv

Arad konnte mehrere Briefe an seine Familie schreiben. Darin drückte er die Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit seinem Lieben aus. Er bat seine Familie, an die Regierung zu appellieren, ihn zu befreien: "Der Libanon ist kein Ort, an dem man gerne sein möchte." Der letzte Brief des Gefangenen war auf den 5. Mai 1988, seinen 30. Geburtstag datiert. Danach gab es kein Lebenszeichen mehr.

"Dieser Tag war ein schreckliches Trauma für mich. Ich kann Ron nicht vergessen. Es war einfach schrecklich, gerettet zu werden und zu wissen, dass Ron noch dort unten war."
Pilot Yishai Aviram Anfang der 1990er Jahre

Schicksal unklar
1988 - zwei Jahre nach seiner Gefangennahme - verlor sich dann jede Spur von Arad, über sein weiteres Schicksal herrscht auch vor 35 später noch Unklarheit. Obwohl offizielle und inoffizielle politische Kanäle ausgeschöpft wurden, sogar die UNO war involviert, ein Verein 10 Millionen Dollar Belohnung auf Hinweise aussetzte und die Familie selbst jedem noch so kleinen Hinweis nachging, gab es kein Lebenszeichen mehr von Ron Arad, dessen tragische Geschichte heute in Israel jedes Kind kennt.

Nicht einmal Arads Todeszeitpunkt ist genau bekannt. Es gab Gerüchte, wonach Arad Anfang der 1990er schwer erkrankt in den Libanon zurück gebracht wurde und dort spätestens bis 1997 starb. Im Jahr 2008 wurde Ron Arad von Israel offiziell für tot erklärt.

2016 berichteten israelische Medien, dass Mossad und die israelischen Streitkräfte über Informationen verfügen, wonach Arad 1988 gestorben sei. Bereits früher war dieses Jahr von verschiedenen Quellen als Todesdatum angegeben worden. Einmal hieß es, er sei bei einem Fluchtversuch erschossen worden, dann wieder, er sei von seinen Bewachern zu Tode gefoltert worden.

Wie, wo und wann Arad auch immer umkm - sein Grab und seine sterblichen Überreste konnte trotz intensiver Suche auch über informelle Kanäle bis heute nicht gefunden wurden, was insbesondere für Ron Arads Witwe und seine Tochter eine enorme emotionale Belastung darstellt.

Arads Pilot flog weiter
Obwohl ihn die dramatischen Ereignisse dieses Tages im Herbst 1986 schwer belastet hatten, stieg Pilot Yishai Aviram später wieder ins Cockpit und verließ die Armee im Rang eines Oberstleutnants.

Yishai Aviram - Foto: IDF

Anschließend wechselte er ins zivile Cockpit. Avirams Sohn wurde übrigens ebenfalls Pilot bei den israelischen Luftstreitkräften und flog 2011 den sechs Jahre zuvor von der radikal-islamischen Terrororganisation Hamas entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit nach Hause, was in Israel für großes Medienecho sorgte.

Yishai Aviram selbst wurde im Herbst 2017 als Kapitän einer Boeing 737 der Fluggesellschaft EL AL - Israel Airlines pensioniert. Er denkt bis heute an seinen Kameraden Ron Arad, der mittlerweile 63 Jahre alt wäre und sicherlich viel Freude mit seinen zwei kleinen Enkelkindern hätte,  die er unglücklicherweise niemals kennenlernen durfte.

Text: P. Huber