Am 24. Dezember 1971 startete eine Lockheed L-188 Electra der peruanischen Fluggesellschaft LANSA um die Mittagszeit vom Flughafen Lima. Ziel der viermotorigen Maschine mit der Kennung OB-R-941 war das rund 500 Kilometer Luftlinie entfernte Pucallpa. Bei einer Reisegeschwindigkeit von rund 600 Stundenkilometern hätte die Reise etwa eine Stunde dauern sollen. Als das Turbopropflugzeug abhob befanden sich sechs Besatzungsmitglieder und 86 Passagiere an Bord. Unter den Reisenden waren auch die damals 17-jährige Juliane Koepcke und ihre Mutter Maria Koepcke, die gemeinsam mit Julianes Vater Hans-Wilhelm Koepcke Silvester feiern wollten. Die Koepckes hatten wenige Jahre zuvor mitten im Dschungel eine Forschungsstation gegründet, weshalb auch Juliane mit dem Leben und Leben im Urwald vertraut war - ein Umstand, der zu ihrem späteren Überleben beitragen sollte.
Schlechte Sicherheitsbilanz
Die erst 1963 gegründete Fluggesellschaft LANSA hatte bereits 1966 und 1970 Abstürze und den Verlust von insgesamt 150 Menschenleben zu beklagen. Viele der Reisenden, darunter auch Juliane Koepcke, bestiegen das Flugzeug daher mit gemischten Gefühlen. In einem Interview Jahrzehnte später erklärte Koepcke, dass ihr Vater sie und ihre Mutter vor der Airline gewarnt hatte, aber alle anderen Flüge seien ausgebucht gewesen.
„Ich machte am 23. Dezember mein Schulabschlusszeugnis und am 24. wollten meine Mutter und ich dann nach Pucallpa fliegen, um von dort zu meinem Vater zur Forschungsstation in den Urwald zu fahren.“
Juliane Koepcke
„Wir wollten ursprünglich Weihnachten schon bei meinem Vater sein, aber ich wollte am Schulabschlussball teilnehmen. Das war für mich sehr wichtig und meine Mutter hatte Verständnis dafür. Deshalb buchten wir den Flug am 24. Dezember.“
Juliane Koepcke
Flug ins Gewitter
Juliane Koepcke saß im Flugzeug rechts hinten auf Sitz 19F, direkt neben ihrer Mutter. Der Flug sei zunächst ruhig verlaufen, schilderte sie später, allmählich zogen jedoch dunkle Gewitterwolken auf. Weshalb die Piloten nicht versuchten, das Gewitter zu umfliegen, sondern offenbar mitten hinein flogen (etwas, das selbst mit modernen Verkehrsflugzeugen nach Möglichkeit immer vermieden wird), wird sich wohl niemals klären lassen. Das Flugzeug wurde durchgerüttelt, die anfänglich gute Stimmung an Bord schlug zunächst in Stille, kurz darauf in Angst und Panik um.
"Es war wirklich beängstigend, die Wolken strichen geradezu um das Flugzeug, wie lebendige Wesen, es war pechschwarz, pausenlos von Blitzen erhellt."
Julian Koepcke
Aus den damals noch nicht geschlossen Gepäckablagen fielen Taschen, Spielzeug, Weihnachtsgeschenke und Kleidung auf die Insassen, als die Maschine hin- und herschwankte. Plötzlich bemerkte Koepcke "ein unwahrscheinlich grelles, blendend weißes Licht auf der rechten Tragfläche". Es war jener Blitz, der das rechte äußere Triebwerk (Nummer vier) in Brand setzte und damit den Absturz der Electra und den Tod von 91 Insassen besiegelte.
„Das Flugzeuge wurde herumgeschleudert wie ein Spielball in den Fängen einer entfesselten Natur.“
Juliane Koepcke
Koepcke: "Meine Mutter sagte ganz ruhig zu mir, dass jetzt alles aus sei. Das waren die letzte Worte, die ich von ihr in Erinnerung habe."
"Jetzt ist alles aus. Das war's."
Maria Koepcke zu ihrer Tochter
Die Maschine ging zunächst in einen Sturzflug über, ehe sie in 3.000 Metern Höhe schließlich auseinanderbrach - zu diesem Zeitpunkt befand sich die Electra laut Koepcke nur noch rund 15 Minuten vom Zielflughafen entfernt. Dabei wurden Sitzbänke und Passagiere ins Freie geschleudert und stürzten in den Urwald.
"Was ich niemals vergessen werde, waren die Geräusche während des Sturzfluges, das irrsinnige Kreischen der Leute in höchster Todesangst zusammen mit dem Brausen der abstürzenden Maschine und dem Dröhnen der Motoren, es füllte meine Ohren total aus."
Juliane Koepcke
"Ich war plötzlich draußen, außerhalb der Maschine und befand mich in der Luft im freien Fall" und hing mit dem Kopf nach unten, festgegurtet an der Sitzbank und sah den Wald sich unter mir drehen. Der Gurt drückte mir den Magen zu und ich bekam keine Luft mehr." Irgendwann während ihres Falls muss Koepcke das Bewusstsein verloren haben, denn an den Aufprall kann sie sich nicht erinnern.
Zehn Tage im Dschungel
Obwohl, nachdem die Maschine ihr Ziel nicht erreicht hatte, eine großangelegte Suchaktion aus der Luft eingeleitet wurde, blieben Flug 508 und seine Insassen für die Rettungsmannschaften unauffindbar. Juliane Koepcke war auf sich allein gestellt. Die Regeln zum (Über-)Leben im Dschungel, die sie schon als Kind gelernt hatte, kamen ihr jetzt zu gute. Sie hörte eine Quelle und folgte ihr, bis sie einen Fluss erreichte.
20 Stunden Bewusstlosigkeit
Als Juliane Koepcke wieder zu sich kam, lag sie neben der Sitzbank auf dem Waldboden. Von ihrer Mutter, den anderen Passagieren oder dem Flugzeug war keine Spur zu entdecken. Sie war rund 20 Stunden bewusstlos, wie ihr ein Blick auf ihre noch funktionierende Armbanduhr verriet. Wie durch ein Wunder war sie mit vergleichsweise geringen Verletzungen davon gekommen: einer schweren Gehirnerschütterung, einer Stauchung der Halswirbelsäule, einem Bruch des Schlüsselbeins, einem Kreuzbandriss und Fleischwunden, die sich später allerdings infizieren sollten.
Doch der eigentliche Überlebenskampf stand dem jungen Mädchen erst noch bevor.
"Ich bin sehr kurzsichtig und hatte meine Brille verloren. Als ich aufwachte sah ich in die Baumkronen des Waldes und hörte vertraute Tiergeräusche, die ich von unserer Forschungsstation kannte. Mein Vater hatte mir immer gesagt: Wenn Du Dich im Urwald verläufst, folge einem fließenden Gewässer in Fließrichtung. Der Dschungel war für mich niemals eine grüne Hölle, sondern ein Lebensraum, den ich einzuschätzen wusste."
Juliane Koepcke
Elf Tage lang kämpfte sich Juliane Koepcke in Fließrichtung eines Flusses, den sie entdeckt hatte entlang: "Am elften Tag fand ich ein Boot und dort war auch ein kleiner Unterstand, ich blieb die Nacht über dort. Am nächsten Tag regnete es und ich konnte deshalb nicht weiter. Das war mein Glück, denn am Abend kamen Waldarbeiter aus dem Dschungel. Als ich deren Stimmen hörte, war das für mich wie Engelsstimmen." Koepcke sprach die Arbeiter auf Spanisch und erklärte den Männern, dass sie eine Überlebende des Absturzes von Flug 508 sei. "Wir wissen von dem Absturz, das Flugzeug ist noch immer nicht gefunden", antworteten ihr die Waldarbeiter.
Rückehr in die Zivilisation
Für das "behütete Mädchen" (Eigendefinition von Juliane Koepcke) begann eine schwierige Zeit. Sie kam ins Krankenhaus, kehrte in die Zivilisation zurück und flog später auf Wunsch ihres Vaters nach Deutschland. Dort kümmerte sich eine Tante aufopfernd um die 17-Jährige. In Deutschland, der ursprünglichen Heimat ihrer Eltern, sicherte sich das Magazin Stern die Exklusivveröffentlichungsrechte an der dramatischen Geschichte. In Kiel besuchte Koepcke die Oberstufe des Gymnasiums, die sie mit der Abiturprüfung erfolgreich abschloss. Anschließend studierte sie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Biologie und wurde schließlich 1987 mit der Dissertation Ökologische Einnischung einer Fledermaus-Artengemeinschaft im tropischen Regenwald von Peru an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert. Sowohl für ihre Diplom- als auch für ihre Doktorarbeit kehrte sie in den peruanischen Regenwald zurück, um Forschungen zu den von ihr gewählten Themengebieten vorzunehmen. Auch heute noch fliegt Koepcke mindestens einmal im Jahr nach Peru, wo sie 2000 die Leitung der von ihrem Vater gegründeten Forschungsstation Panguana übernommen hat, die seit Dezember 2011 als Naturschutzgebiet anerkannt ist.
Fund des Wracks, Konsequenzen, Zustand heute
Nach der wundersamen Rettung von Juliane Koepcke wurde die Suchaktion nach Flug 508 und seinen Insassen wieder aufgenommen. Koepcke konnte den Suchteams dabei wertvolle Hinweise liefern, sodass schließlich.schließlich am 5. Januar 1972 das Hauptwrack und in weiterer Folge - ab dem 6. Januar - auch die übrigen noch vermissten 91 Insassen entdeckt werden konnten. Der Fluggesellschaft LANSA war bereits am 4. Januar die Betriebserlaubnis entzogen worden.
Doch alles Hoffen war umsonst: von den Insassen ihnen war niemand mehr am Leben. Weil einige der Leichen jedoch nur einen geringen Verwesungsgrad aufwiesen, darunter auch Juliane Koepckes Mutter, schlossen Experten, dass rund ein Dutzend Menschen den Absturz für mehrere Tage überlebt hatten. Sie waren jedoch offenbar so schwer verletzt, dass sie nicht einmal die Absturzstelle verlassen konnten, um zu versuchen, Hilfe zu holen.
Hätten die Suchmannschaften das Wrack früher gefunden, hätten wohl noch mehr Menschen überleben können.
Juliane Koepcke verarbeitete ihre Geschichte in dem 2011 erschienenen Buch "Als ich vom Himmel fiel", Malik, München 2011, ISBN 978-3-89029-389-9.
Die Trümmer der unglückseligen Lockheed Electra liegen bis heute im Dschungel von Peru. In Pucallpa, der Destination, die Flug 508 niemals erreicht hat, erinnert das Denkamal "Alas de Esperanza" (auf Deutsch: "Flügel der Hoffnung") an die 91 Opfer jenes tragischen Weihnachtstages vor 50 Jahren.
Text: P. Huber