Es hätte wahrscheinlich keinen schlechteren Tag geben können, um eine der dramatischsten Rettungsaktionen in der Geschichte der Luftwaffe durchzuführen als Freitag, den 22. Januar 1982. An diesem Tag regnete es bei klirrender Kälte fast in ganz Deutschland, der Eisregen verwandelte Städte und Straßen in Rutschbahnen, alle Flughäfen waren geschlossen. Hubschrauber standen mit vereisten Rotorblätter am Boden, Züge fuhren nicht, weil die Weichen eingefroren waren. Und just an diesem Tag verschlechterte sich der Gesundheitszustand der dreijährigen Jessica im sardischen Cagliari derart, dass sie keine 24 Stunden mehr überleben würde. Der Kinderarzt sah nur noch eine Möglichkeit: Er hatte in einer medizinischen Zeitschrift über ein neues antivirales Medikament in Deutschland gelesen, mit dem er vielleicht das Leben des Mädchens retten könnte. Also bat er kurzerhand die deutsche Luftwaffe in Decimomannu um Hilfe.
Aber es war Freitagabend, außer einem diensthabenden Offizier war auf der viernationalen Militärbasis kein Deutscher mehr zu erreichen. Der aber machte sich das Anliegen des Arztes zu eigen, rief seine vorgesetzte Dienststelle in Deutschland an und schilderte die Dringlichkeit des Falles. Daraufhin setzte sich eine Maschinerie in Gang, von deren Umfang und Größe weder der verzweifelte Arzt noch die Eltern der kleinen Jessica eine Ahnung hatten.
Zuerst wurde über die Bundeswehr-Zentralapotheke geprüft, wo dieses Medikament vorrätig war. Dann musste aber auch ein ziviler oder militärischer Flughafen in der Nähe sein, den man trotz des Eisregens öffnen konnte. Die Wahl fiel auf das Jagdbombergeschwader 34 in Memmingen, dort schien man noch am ehesten mit dem Eis fertig werden zu können. Das Medikament war ausschließlich beim Hersteller zu finden, einer Pharmafirma in München. Die Polizei holte den Prokuristen aus einer Opernvorstellung und fuhr mit ihm zur Firma. Mit einer Polizeistafette brachte man das Medikament über 130 km vereiste Landstraße nach Memmingen.
Mittlerweile war dort die Schnee- und Eisräumbereitschaft zum Dienst geholt worden, ein freiwilliger Pilot – Oberleutnant Jürgen Gundling – war schnell gefunden. Für die Enteisung beschränkte man sich auf einen Streifen in der Mitte der Startbahn, für die Rollwege reichte die Zeit nicht. Der Starfighter und die Anlassaggregate wurden deshalb auf die Piste geschleppt. Der deutsche Militärattaché in Wien wurde aus dem Bett geklingelt, um von seinem österreichischen Ansprechpartner die diplomatische Freigabe für den Flug des Starfighters über das neutrale Österreich einzuholen. Die italienischen Militärflugplätze Trapani, Sigonella, Grosseto, Grazzanise und Goia del Colle wurden offen gehalten, falls ein Defekt oder schlechtes Wetter die Maschine zu einer Ausweichlandung zwingen sollte. Um 01:35 Uhr morgens fuhr die Polizei durch die Hauptwache in Memmingen. Um 01:50 reichte man Jürgen Gundling das Medikament ins Cockpit. Die Maschine wurde angelassen. Für einen normalen Run-up des Triebwerks war die Bahn noch immer zu glatt. Das Flugzeug drohte schon im Leerlauf zu rutschen.
Schläuche und Verbindungskabel werden abgezogen. „Rescue One, wind calm, cleared for takeoff. When safe airborne proceed on course, direct Deci. Call Munich Radar on 312.4, and good luck!” Ein Zeichen an den Wart, die Bremsklötze fliegen zur Seite, die Maschine rutscht, Nachbrenner. Das Triebwerk brüllt auf, Gundling hält den Starfighter mit den Fingerspitzen auf der Mitte des geräumten Startbahnstreifens, um ihn dann bei Erreichen der Rotation-Speed entschlossen vom Boden zu nehmen; Fahrwerk, Klappen, Rescue One is airborne. Kurs nach Österreich. Kurs nach Deci. Fünf Sekunden später verschwindet er in den Wolken.
Inzwischen am Zielflughafen Decimomannu. Sintflutartiger Regen der vergangenen Tage hatte die Erdkabel der Anflug- und Pistenbefeuerung unter Wasser gesetzt. Kein Strom, kein Licht. Gundling würde eine radargeführte Landung in stockdunkler Nacht bei strömendem Regen und tiefhängenden Wolken durchführen müssen. Ein tatkräftiger Hauptmann trommelte alles zusammen, was ein Auto fahren konnte und dirigierte zivile und militärische Fahrzeuge an die Piste, um sie zu beleuchten. Nach dem ersten Funkkontakt mit Rescue One sprach ein zum Dienst geholter Radarcontroller das Flugzeug mit einer Seelenruhe den Gleitpfad herunter, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, morgens um 03:00 Uhr bei stürmischem Wetter und regenverhangenem Himmel ein Flugzeug, das mit 380 km/h anfliegt, auf den Aufsetzpunkt der Landebahn herunterzusprechen, die nur behelfsmäßig beleuchtet war. Ein Fahrzeug der Carabinieri brachte das lebensrettende Medikament in das Pädiatrische Krankenhaus von Cagliari, wo es dem behandelnden Arzt übergeben wurde.
Bei dieser Aktion waren schätzungsweise tausend Personen in irgendeiner Weise beteiligt. Niemand fragte nach den Kosten oder nach dem Nutzen. Es ging nur darum ein Leben zu retten. Die Menschen, die dabei Entscheidungen trafen, waren meist Bereitschaften oder Stellvertreter mit einem mittleren Dienstgrad. Sie nahmen diese Entscheidungen auf ihre Kappe und waren bereit, notfalls ernsten Konsequenzen ins Auge zu sehen. Sie können noch heute stolz darauf sein, denn die kleine Jessica überlebte. Von wegen, „Soldaten sind Mörder“!
In der sardischen Tageszeitung erschien übrigens in der Woche danach ein kurzer halbspaltiger Artikel, in dem lediglich der Umstand erwähnt wurde, dass die deutsche Luftwaffe bei der Beschaffung eines Medikaments behilflich war. Grund genug, diese Geschichte nochmal aufzugreifen und in einem meiner Bücher zu verarbeiten. Gedruckt ist es nur in italienischer Sprache erhältlich.
Text: Andreas Fecker
Dieser Beitrag erschien erstmals am 22. August 2015 auf der Seite www.airportzentrale.de und wird von Austrian Wings anlässlich des 40. Jahrestages der Ereignisse mit freundlicher Genehmigung des Autors an dieser Stelle veröffentlicht - wir danken Andreas Fecker für sein Entgegenkommen.