Reportagen

Vor einem halben Jahrhundert: Urlaubsflug in den Tod - der Absturz von Interflug 450

Das völlig ausgebrannte Wrack in einem Feld bei Königs Wusterhausen - Foto: BStU

Am 14. August 1972 stürzte eine IL-62 der DDR-Fluggesellschaft Interflug auf dem Weg von Berlin nach Burgas nahe Königs Wusterhausen ab. Alle 156 Menschen an Bord kamen ums Leben. Ursache war ein Feuer in einem nicht einsehbaren Bereich im Rumpf, ausgelöst durch einen Konstruktionsfehler, der aus Rücksicht auf den "großen Bruder", die Sowjetunion, jedoch erst nach der Wende öffentlich wurde. Austrian Wings erzählt die dramatische Geschichte des Todesfluges von Königs Wusterhausen.

Für Bürger der DDR-Diktatur, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands hervorgegangen war, war die Reisefreiheit stark eingeschränkt. Auslandsreisen waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich nur in befreundete "sozialistische Bruderstaaten" möglich. So wollte das Regime so genannte "Republikfluchten" verhindern. Diese Einschränkungen führten dazu, dass Urlaubsreisen ans Heer häufig an die bulgarische Schwarzmeerküste führten. Wer nicht mit dem Auto reisen wollte, der flog mit der staatseigenen Interflug. Auch am 14. August 1972 sollte ein solcher Flug stattfinden.

Neues Flugzeug, erfahrene Crew
Eine IL-62, ein damals hochmodernes vierstrahliges sowjetisches Langstreckenflugzeug, war für den rund zweistündigen Flug von Berlin Schönefeld nach Burgas in Bulgarien vorgesehen. Üblicherweise kam die Maschine auf Überseeflügen zum Einsatz, aufgrund der höheren Passagierkapazität (168 Sitzplätze) gegenüber der TU-134 (je nach Version konnte dieser Typ maximal 84 Passagiere befördern), setzte Interflug die IL-62 bisweilen aber auch innereuropäisch ein. Es handelte sich dabei um die DM-SEA (Werksnummer 00702), die nur etwas mehr als zwei Jahre zuvor, im April 1970 als erste Il-62 der Interflug in Dienst gestellt worden war. Das Flugzeug hatte zu diesem Zeitpunkt rund 3.500 Flugstunden absolviert und galt damit noch als neuwertig. Nichts deutete darauf hin, dass die Maschine mit der Flugnummer IF 450 ihr Ziel niemals erreichen würde.

Eine IL-62 der Interflug, ähnlich der verunglückten Maschine - Foto: Felix Goetting / GFDL 1.2

Kommandant an diesem Tag ist Heinz Pfaff. Der 51-jährige Ingenieurökonom gilt als erfahrener Flugzeugführer und hat rund 8.100 Flugstunden in seinem Logbuch stehen. Vor der IL-62 war er unter anderem als Pilot auf der IL-14 und der IL-18 eingesetzt. Erster Offizier ist Lothar Walther, mit rund 6.000 Flugstunden ebenfalls ein erfahrener Luftfahrzeugführer. Der 35-Jährige ist zudem Ingenieur für Triebwerksbau, fliegt seit elf Jahren für die Interflug, begann seine Karriere als Bordingenieur und arbeitete sich vom "dritten Mann" zum Piloten hoch.

Als Navigator fungiert Achim Filenius, der 8.570 Stunden im Cockpit verbracht hat (er überlebte elf Jahre zuvor als Bordfunker einen Flugunfall an Bord einer IL-14 der Interflug). Der 38-Jährige ist Ingenieur für Luftfahrtbetriebstechnik/Flugzeugführung. An der Konsole des Flugingenieurs sitzt Ingolf Stein, der bis dato rund 2.200 Stunden Berufserfahrung im Cockpit aufweisen kann. Er ist auch als Wartungsingenieur qualifiziert. Komplettiert wird die Besatzung durch die vier Flugbegleiterinnen Marlies Zidanek (Oberstewardeß, 32 Jahre alt), Barbara Scholz (Brigadestewardeß, 31 Jahre), Monika Atanassov (Stewardeß, 28 Jahre) und Gabriele Scheller (Stewardeß, 20 Jahre), die für die Sicherheit in der Kabine sowie das Bordservice verantwortlich sind.

Am Nachmittag boarden 148 Passagiere, darunter viele Familien, den Vierstrahler. Sie alle freuen sich auf ihren Urlaub am Meer. Nachdem die Kabinentüren geschlossen sind, werden nacheinander die vier Turbinen angelassen. Die Besatzung erbittet Roll- sowie Startfreigabe und um 16:29 erhebt sich die IL-62 vom Flughafen Berlin Schönefeld in den Himmel, nimmt Kurs nach Süden.

Das Unheil nimmt seinen Lauf
Doch was als Routineflug begonnen hat, nimmt schon bald eine dramatische Wendung. Nur 13 Minuten nach dem Start, um 16:42 Uhr, meldet die Cockpitbesatzung der Flugsicherung am Boden "Probleme mit der Stabilisierungsflosse", also Schwierigkeiten mit der Höhenrudertrimmung. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die DM-SEA in rund 8.900 Metern Höhe, etwa 100 Kilometer von Berlin entfernt bei Cottbus. Die Männer im Cockpit wissen zwar die Ursache der Probleme nicht, entscheiden sich aber nach Rücksprache mit der Flugsicherung, nach Berlin Schönefeld zurückzukehren. Eine Minute später, um 16:43, ändert die Maschine ihren Kurs wieder Richtung Berlin. Weil das Landegewicht der IL-62 aufgrund des Treibstoffs an Bord zu hoch wäre, entscheidet sich die Crew um 16:51, Kraftstoff abzulassen, um so das Landegewicht zu reduzieren. Um 16:54 werden die Treibstoffablassventile der IL-62 geöffnet. Währenddessen kämpfen die Piloten Pfaff und Walther um die Kontrolle über das Flugzeug, denn die Höhensteuerung arbeitet immer unzuverlässiger. Um 16:59 setzen die Piloten einen letzten Notruf an die Bodenkontrollstelle ab.

"Mayday, Mayday, Mayday. Unmöglich, Höhe zu halten, hatten Brand, haben Schwierigkeiten mit der Höhensteuerung."
Der letzte Funkspruch aus der IL-62

Um 17:01 Uhr löst sich das Heckteil mitsamt Höhenleitwerk und Triebwerken vollständig vom restlichen Rumpf der IL-62. Dadurch wird die DM-SEA endgültig unsteuerbar, der Rumpf kippt nach vorne ab, stürzt unkontrolliert zu Boden.

Das abgetrennte Heckteil mit dem Seiten- und Höhenleitwerk - Foto: BStU

Durch die aerodynamischen Belastungen zerbricht der restliche Rumpf noch in der Luft. Die Trümmer schlagen nur wenige Hundert Meter entfernt von der Stadt Königs Wusterhausen auf. Alle 148 Passagiere und 8 Besatzungsmitglieder sind tot. Die vier Flugbegleiterinnen wird man später"optisch unversehrt"  in der Bordküche finden. Um ein Haar hätten die Trümmer auch den Bahnhof der Stadt getroffen.

Für den ehemaligen IL-62 Piloten Heinz-Dieter Kallbach steht fest, dass die Crew die Maschine noch in letzter Sekunde vom Bahnhof weg steuerte.

"Die Piloten im Cockpit waren die Helden, weil sie den drohenden Absturz direkt auf den Bahnhof verhinderten."
Heinz-Dieter Kallbach gegenüber "RBB24"

Politisch heikle Ursachenforschung
Der Absturz - er gilt bis heute als das schwerste Flugunglück auf deutschem Boden - war ein Schock für die DDR und entsprechend waren die offiziellen politischen Stellen daran interessiert, das Unglück aufzuklären, um weitere Unfälle dieser Art zu vermeiden. Eine wichtige Indizien gab es bereits. So hatte die Crew Probleme mit der Höhensteuerung und ein Feuer gemeldet, zudem war das Heck noch in der Luft abgebrochen. Also konzentrierten sich die Ermittlungen auf diesen Bereich und rasch wurden die Unfallermittler der DDR fündig. Ein Konstuktionsfehler hatte zu einer Verkettung unglücklicher Umstände geführt, die dann wiederum zur Folge hatten, dass das Heck der Maschine regelrecht "abgeschweißt" wurde. Während der Ermittlungen wurde die gesamte IL-62-Flotte der Interflug mit einem Flugverbot, einem Grounding, wie es in der Fachsprache heute heißen würde, belegt.

Ermittler an der Unfallstelle - Foto: Archiv Austrian Wings

Am Ende kamen die mehr als 60 DDR-Unfallermittler zu folgendem Schluss: In einem außerhalb der Druckkabine gelegenen Raum der IL-62 verlaufen Leitungen, in denen 300 Grad heiße Zapfluft für die Klimaanlage zirkuliert. Dort war eine Leckage entstanden, durch die die heiße Luft mit Hochdruck austrat und dadurch die Isolierung von in diesem Bereich ebenfalls verlaufenden elektrischen Leitungen beschädigte. Dadurch kam es zu einem Kurzschluss (daher die ersten Probleme mit der Höhenrudertrimmung) mit Funkenbildung, ein Brand entstand. Unglücklicherweise befanden sich in diesem Bereich des Flugzeuges auch noch Kanister mit hochentflammbarer Enteisungsflüssigkeit, die ebenfalls rasch Feuer fing. Es gab weder einen Brandmelder noch eine Sichtverbindung zu diesem Bereich des Flugzeuges, wodurch die Besatzung keinerlei Möglichkeit hatte, das wahre Ausmaß der Probleme zu erkennen. Das Feuer erreichte Temperaturen von rund 2.000 Grad Celsius, und obwohl die Besatzung alles richtig machte, hatte sie keine Möglichkeit mehr, die Katastrophe zu verhindern.

Aus den Akten der DDR: In diesem Bereich trat 300 Grad heiße Luft aus einer beschädigten Hochdruckleitung aus und verursachte so das tödliche Feuer - Foto: BStU

Die DDR-Ermittler übermitteln ihre Erkenntnisse an das Konstruktionsbüro des Herstellers Ilyushin in der Sowjetunion, doch weil nicht sein konnte, was politisch nicht sein durfte, wurden die Ergebnisse der deutschen Unfallermittler vom Flugzeughersteller zurückgewiesen. Trotzdem wurden, welch ein Zufall, alle IL-62 gemäß den Vorschlägen der DDR-Unfallermittler durch den sowjetischen Hersteller modifiziert. Zu den umgesetzten Maßnahmen zählten der Einbau zusätzlicher Brandmelder, Löscheinrichtungen und eines Sichtfensters in die Trennwand zum Heckraum Darüber hinaus wurden zusätzliche periodisch durchgeführte Kontrollen - sogenannte "Klimasonderkontrollen" - angeordnet.

Öffentlichkeit erfuhr nichts
Von all dem erfuhr die Öffentlichkeit in der DDR freilich nichts. Um das Verhältnis zum "großen Bruder" Sowjetunion nicht zu belasten, hatte Staats- und Parteichef Erich Honecker persönlich Stillschweigen angeordnet. Und so blühten über Jahrzehnte die wildesten Gerüchte zum Absturz - etwa, dass die IL-62 beim Ablassen von Treibstoff durch ihre eigene Kerosinwolke geflogen und deshalb explodiert sei. Erst nach dem Ende der DDR-Diktatur kamen die wahren Ursachen ans Licht.

(Staats-)Begräbnis für die Opfer
Die Opfer des Flugzeugunglücks wurden unter den wachsamen Augen der DDR-Staatssicherheit (Stasi) zur letzten Ruhe gebettet. Das DDR-Fernsehen berichtete darüber, wie Parteigrößen theatralisch inszeniert Abschied von den Unglücksopfern nahmen.

"Zum Trauerakt waren nur fünf Personen zugelassen, wir durften einen einzigen Kranz nehmen. Das tut mir heute noch weh."
Christa Mertin, verlor ihre Eltern bei dem Absturz

60 Insassen waren dermaßen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, dass sie nicht mehr identifiziert werden konnten. Sie wurden gemeinsam auf dem Friedhof der Stadt Wildau in einem Massengrab beigesetzt, wo sich auch ein Gedenkstein mit ihren Namen befindet.

60 Opfer konnten nicht mehr identifiziert werden; sie wurden gemeinsam in einem Massengrab beerdigt, ihre Namen sind auf einem Gedenkstein verewigt - Foto: Derlars CC BY-SA 4.0

Neuer Gedenkstein
Am vergangenen Wochenende fand anlässlich des 50. Jahrestages des Absturzes am Unglücksort eine Gedenkveranstaltung statt. Dabei wurde am Absturzort auch eine neue Gedenktafel zur Erinnerung an das bis heute schwerste Flugzeugunglück auf deutschem Boden feierlich eingeweiht.

Text: P. Huber