Der 27. Juli 2002 sollte ein Tag der Freude und des Feierns in der Ukraine werden. Das Land war erst elf Jahre zuvor von Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion in die Unabhängigkeit entlassen worden. Auf dem Flugplatz Sknyliv nahe der westukrainischen Stadt Lemberg (Lwiw) war eine Airshow geplant, bei der unter anderem mit Flugvorführungen an die Gründung des 14th Air Corps der ukrainischen Luftstreitkräfte 60 Jahre zuvor erinnert werden sollte.
Doch anders als in Europa, wo nach dem tragischen Flugtagunglück von Ramstein 1988 die Sicherheitsvorkehrungen für derartige Veranstaltungen verschärft worden waren, ging es auf dem Lemberger Flugtag vergleichsweise "locker" zu, wie dies in vielen Ländern Osteuropas zu dieser Zeit noch der Fall war. Auf dem Boden waren zahlreiche Kampf-, Jagd- und Transportflugzeuge sowie Bomber der ukrainischen Luftwaffe im Static Display ausgestellt.
Für die Flugschau war eigentlich eine MiG 29UB der 114. Tactical Aviation Brigade vorgesehen. Aufgrund der schlechten Wetterbedingungen konnte die Maschine jedoch nicht von Iwano-Frankiwsk nach Lemberg fliegen. Deshalb wurde eine Su-27 der 39. Tactical Aviation Brigade vom Flugplatz Ozerne nach Lemberg geschickt. Der Start erfolgte gegen 12:15 Uhr. Im Cockpit des Zweisitzers saßen die erfahrenen Piloten Wolodymyr Toponar und Yuriy Yegorov. Allerdings war zumindest Toponar im Jahr 2002 fast nicht geflogen.
Der verantwortliche Pilot Wolodymir Toponor hatte von Jänner bis Ende Juli 2002 gerade einmal V I E R !! (4) Flugstunden absolviert. Ein von ihm geforderter Trainingsflug im Vorfeld der Veranstaltung war aus Kostengründen nicht genehmigt worden. Unter diesen Umständen war es seitens der Verantwortlichen eigentlich grob fahrlässig, so einen Piloten ein Display vor Publikum fliegen zu lassen. Zum Vergleich: Für NATO-Kampfpiloten sind 180 Stunden pro Jahr Mindesstandard, das entspricht 90 Flugstunden pro Halbjahr. Selbst in Österreich, dessen verantwortungslose Politiker das Bundesheer seit Jahrzehnten regelrecht "zu Tode sparen", fliegen Eurofighter-Piloten pro Jahr mindestens 80 bis 90 Stunden, dazu kommen weitere Stunden im Simulator.
Toponar war seit 1996 Displaypilot der Kunstflugstaffel "Ukrainian Falcons", die 1997 beim Air Tatoo in Fairford aufgetreten war und 1999 eine Auszeichnung für ihr Display bei einer Flugschau im tschechischen Königgrätz erhalten hatte. Allerdings war die Kunstflugstaffel chronisch unterfinanziert, es fehlte an Ersatzteilen sowie Treibstoff und damit an regelmäßiger Flugpraxis bei vielen Piloten.
Bei ihrer Flugvorführung bewegten die beiden erfahrenen Piloten ihre Su-27 in niedriger Höhe teils direkt auf die rund 10.000 Besucher zu. Die Zuschauer kamen fast ausschließlich aus der Ukraine. Für Verwirrung bei den Piloten sorgten auch die Zuseher am Boden. Denn anstatt im eigentlich vorgesehenen Bereich befanden sich die Besucher nun am anderen Ende des Areals - wovon die Piloten im Vorfeld allerdings nicht informiert wurden.
Um 12:43 Uhr begann die Flugvorführung der Su-27. Nur zwei Minuten später, um 12:45 Uhr, schlug das Schicksal zu: In einer engen Linkskurve riss zunächst an der linken Tragfläche der Su-27 plötzlich die Strömung ab, wodurch sich der Jet auf den Rücken drehte. Blitzschnell brachte Toponar die Su-27 wieder in Normalfluglage und versuchte, sie abzufangen. Doch dabei zog er - vermutlich aufgrund der geringen Höhe über dem Boden, der rasch auf ihn zukam - zu stark, sodass es erneut zum Stall kam. Mit nach oben gerichteter Flugzeugnase verlor der Kampfjet weiter dramatisch rasch an Höhe, während sich die linke Tragfläche senkte. Nur Sekunden später streifte die Su-27 einige Bäume, danach berührte die linke Flächenspitze knapp vor den Zuschauerreihen den Boden, unmittelbar danach schlug der gesamte Rumpf auf.
Piloten retteten sich per Fallschirm
In diesem Moment erkannten Toponar und Yegorov, dass sie nur noch machtlose "Passagiere" in der über 20 Tonnen schweren Maschinen waren, die mit mehreren Hundert Stundenkilometern über den Boden schlitterte, und betätigten die Schleudersitze. Sekundenbruchteile, nachdem die Piloten das waidwunde Flugzeug verlassen hatten und an ihren Fallschirmen sicher zu Boden schwebten, krachte der abgestürzte Kampfjet zunächst gegen eine Su-17 auf dem Boden, streifte danach die Nase einer IL-76, explodierte und schlitterte brennend mitten in die Zuschauermenge, wo das in Flammen stehende Flugzeugwrack ein wahres Inferno verursachte.
Viele Kinder unter den Toten
Die Opfer erlitten schwerste Verbrennungen durch das Kerosinfeuer oder wurden vom Wrack beziehungsweise Trümmerteilen der Suchoi Su-27 getroffen. Körper wurden in Stücke zerfetzt, Gliedmaßen abgerissen. Das Veranstaltungsgelände hatte sich innerhalb von wenigen Sekunden ein apokalyptisches Schlachtfeld verwandelt. Rauchschwaden stiegen zum Himmel empor, der Geruch von Kerosin, Blut und verbranntem Menschenfleisch lag über dem gesamten Areal.
Rettungsdienst und Krankenhäuser der Region waren mit der großen Anzahl an schwerstverbrannten Patienten völlig überfordert. Die traurige Bilanz: 77 Tote und mehr als 500 zum Teil Schwerverletzte sowie psychisch traumatisierte Opfer.
Unter den Todesopfern befanden sich auch 28 Kinder. Und während viele Eltern ihre Kinder verloren, verloren umgekehrt auch viele Kinder ihre Eltern oder einen Elternteil - so wie die Brüder Ostap (3) und Oleh (10) Khmil. Als der brennende Jet auf die Familie zuraste, warf sich Mutter Halyna mit ihrem Körper schützend über Ostap, wodurch der Junge überlebte, während seine Mutter ihr Leben für ihn hingab. Sein Bruder Oleh wurde durch die Druckwelle weg geschleudert und verdankte diesem Umstand sein Leben. Die Großmutter der Buben erlitt lebensgefährliche Verletzungen und starb wenige Tage später im Krankenhaus. Vater Yurii befand sich zum Unglückszeitpunkt nicht auf der Airshow und wusste auch nicht, dass seine Frau mit den Kindern dort war. Auch Ruslan Pavlovyc kam ums Leben. Der 9-jährige hatte ein ausgesprochen großes Interesse für Flugzeuge und besuchte gemeinsam mit seinem Vater den Flugtag in Lemberg. Er starb gemeinsam mit seinem Vater.
"Ruslan liebte die Fliegerei. Er hat mich und meinen Mann immer wieder gebeten, ihm ein Buch mit Faltvorlagen für Papierflugzeuge zu kaufen. Darin war auch eine Su-27, die er gemeinsam mit seinem Vater basteln wollte, doch es war zu schwierig für ihn. Ruslan ließ es bleiben und sagte, dass er das Papierflugzeug später fertigstellen würde. Aber er hat es nicht mehr vollendet."
Ruslans Mutter Natalia anlässlich des zehnten Jahrestages der Tragödie, 2012
Serhiy Halaiko (17) interessierte sich für Technik und hätte mit einer Ausbildung an der "Polytechnic National University" von Lemberg beginnen sollten - doch er sollte den Flugtag ebenfalls nicht überleben.
Kaum (finanzielle) Unterstützung für Opfer
Schwer enttäuscht vom ukrainischen Staat zeigten sich die Überlebenden und Hinterbliebenen der Todesopfer. Denn die finanzielle Unterstützung fiel niedrig aus und beschränkte sich häufig auf Einmalzahlungen, die noch dazu uneinheitich geregelt waren. So erhielten manche Überlebende mit schweren Verletzungen umgerechnet rund 1.250 Euro, andere, deren Verletzungen leichter waren, bekamen manchmal umgerechnet 30.500 Euro. Kinder, die durch das Unglück ihre Eltern verloren hatten, speiste der Staat mit monatlichen Zahlungen zwischen 37 und rund 60 Euro ab - die nicht selten um ein halbes Jahr verspätet eintrafen. Im Wesentlichen seien die Opfer sich selbst überlassen worden. Noch heute leiden viele Opfer unter den physischen und psychischen Folgen dieses Tages.
"Es gibt keine Gerechtigkeit für uns und die Ukraine ist kein Rechtsstaat. Die Generäle sagen, sie sind nicht schuld. Die Piloten sagen sie sind nicht schuld. Offenbar sollen wir, die Angehörigen, selbst schuld am Tod unserer Lieben sein, weil wir unseren Kindern erlaubt haben, auf die Airshow zu gehen."
Zenoviy Halaiko, der seinen 17-jährigen Sohn bei dem Unglück verlor, 2012
Einige von ihnen klagten auf mehr Unterstützung sowie Entschädigung und setzten all ihre Hoffnungen auf den Europäischen Gerichtshof, wie sie anlässlich des zehnten Jahrestages des Unglücks 2012 gegenüber ukrainischen Medien erklärten. Sie beriefen sich darauf, dass die Hinterbliebenen des Fluges Sibir 1812, der im Jahr 2001 versehentlich von der ukrainischen Marine abgeschossen worden war, rund 200.000 Euro pro Opfer erhalten hatten. Was aus den Klagen wurde, ist unbekannt.
Hohe Haftstrafen für Piloten
Die beiden nur leicht verletzten Flugzeugführer der Su-27 wurden festgenommen. Der damalige ukrainische Staatspräsident Leonid Kutschma besuchte die Unglücksstelle und entließ General Wolodymyr Strelnykow, den Kommandeur der ukrainischen Luftwaffe. Der Verteidigungsminister bot in der Folge seinen Rücktritt an, den der Präsident jedoch ablehnte.
Von einem Militärgericht wurden Toponar am 24. Juni 2005 zu 14 und Yegorov zu 8 Jahren Haft verurteilt. Außerdem verurteilte sie das Gericht dazu, hohe Geldbeträge an die Hinterbliebenen der Opfer zu zahlen, was in der Praxis natürlich unmöglich war. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Piloten durch grobe Pflichtverstöße den Unfall verursacht hatten. Drei weitere Militärs der Luftstreitkräfte fassten ebenfalls mehrjährige Haftstrafen aus. Yegorov wurde bereits 2008 aufgrund eines Dekrets des neuen ukrainischen Präsidenten Viktor Yuschenko aus der Haft entlassen. Laut ukrainischen Quellen verließ er das Land 2014, um nach Russland zu übersiedeln. Toponar musste dagegen acht Jahre seiner Strafe absitzen und kam erst 2013 frei. Die Kunstflugstaffel "Ukrainian Falcons" wurde kurz nach der Tragödie aufgelöst, vergleichbare militärische Kunstflugveranstaltungen gab es seither in der Ukraine nicht mehr.
Pilot sieht sich als Opfer
Wolodymyr Toponar sah sich stets als Justiz-Opfer und machte während des Prozesses technische Probleme für den Unfall verantwortlich. Diese These vertrat er auch nach seiner Haftentlassung in einem Fernsehinterview. Außerdem hätten er und sein Kamerad nicht über detaillierte Informationen darüber verfügt, in welchem Areal genau sie das Display fliegen sollten und wo sich die Zuschauer befanden. Toponar hatte aufgrund der unklaren Situation und der geringen Flugpraxis im ersten Halbjahr 2002 (er war nach eigenen Angaben nur vier Stunden geflogen) vor dem eigentlichen Display um einen Trainingsflug gebeten - dieser war jedoch abgelehnt worden.
Und so lautet die offizielle Ursache für das mit mindestens 77 Opfern folgenschwerste Flugtagunglück der Welt offiziell Pilotenfehler. Tatsächlich dürfte es jedoch, wie so häufig in der Luftfahrt, eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen sein:
- mangelnde Informationen über das geplante Display für die Piloten im Vorfeld der Veranstaltung
- keine Information an die Piloten im Vorfeld über die Position der Zuseher auf dem Veranstaltungsgelände (laut Angaben von Toponar)
- Ablehnung eines vom verantwortlichen Piloten beantragten Trainingsfluges durch die vorgesetzten Dienststellen
- Verwirrung der Piloten während des Fluges über die Position der Zuschauer und darüber, in welchem Bereich über dem Flugfeld sie ihr Display fliegen dürfen
- Strömungsabriss (Stall) an der linken Tragfläche in niedriger Flughöhe, vermutlich aufgrund von Pilotenfehler
- Erneuter Strömungsabriss beim Abfangmanöver, vermutlich aufgrund zu starker bzw. abrupter Betätigung des Höhenruders
Dazu kam die finanziell angespannte Situation in den ukrainischen Luftstreitkräften, wodurch viele Piloten nur wenig flogen und folglich völlig aus der Übung waren. Gerade bei Militär- und Displaypiloten ist regelmäßiges Training jedoch unabdingbar, damit die hochkomplexen überschallschnellen Kampfjets in jeder Situation sicher beherrscht werden. Mit den gerade einmal vier Flugstunden, die Toponar seit Jänner des Jahrs 2002 absolviert hatte, hätte er, wie eingangs bereits erwähnt, niemals ein solches Display fliegen dürfen.
Diese unheilvolle Melange führte schließlich dazu, dass sich der 27. Juli 2002 von einem Festtag in flammendes Inferno verwandelte, in dem so viele Menschenleben ausgelöscht oder für immer verändert wurden.
Auf Deutsch übersetzte Abschrift der Aufzeichnungen der Gespräche im Cockpit*
Bereits kurz nach dem Absturz veröffentlichte die Ukraine einen Mitschnitt des Funkverkehrs beziehungsweise der Gespräche zwischen den Piloten und der Bodenstelle. Darauf waren zu hören: Wolodymyr Toponar (Pilot), Yuriy Yegorov (Co-Pilot), Anatoli Tretjakow, Vizekommandeur des Luftwaffen-Einsatzes bei der Flugschau, und Yuri Jaziuk - verantwortlicher Fluglotse bei der Airshow.
12:43:00 Toponar: Sicht 10 Kilometer. Erbitte Erlaubnis, tiefer zu gehen.
12:43:05 Tretjakow: Ja. Haben Sie auf 152 in Sicht, Erlaubnis erteilt.
12:43:13 Yegorov: Wowa (Abkürzung für Wolodymyr), geh' gerade und runter auf 300 Meter ... Wowa, lass das, nein, nicht dorthin!
12:4313 Toponar: Keine Sorge.
12:43:26 Jaziuk: 152, hier Tower. Ich kann Sie sehen. Freigabe für Ihr Display erteilt
12:43:31 Low Altitude Alert der Su-27 ertönt für 5,5 Sekunden.
12:43:33 Yegorov: Wir sind ziemlich schwer. Verstanden?
12:43:37 Yegorov: Sechs Tonnen Treibstoff an Bord. Verstanden?
12:43:43 Toponar: (fluchend) Wo sind die Zuschauer?
12:43:48 Yegorov: (ebenfalls fluchend) Ich weiß nicht, wo sie sind.
12:43:49 Toponar: Ah, da sind sie.
12:43:49 Yegorov: Rechts ist keiner.
12:43:54 Toponar: (funkt an den Lotsen im Tower). Ich fliege das Manöver rechts.
12:43:54 Yegorov: Also, geht's los?
12:43:58 Jaziuk: Links, links.
12:44:14 Yegorov: Einschalten.
12:43:34 Yegorov: Los geht's.
12:44:36 Low Altitude Alert der Su-27 schlägt an.
12:44:39 Yegorov: Rolle.
12:44:44 Yegorov: Es ist genug. Der Winkel!
12:44:51 Ein automatisches Alarmsystem warnt die Crew vor einem kritischen Anstellwinkel (Angel of Attack)
12:45:01 Jaziuk: Kurve.
12:45:02 Yegorov: (stark gestresst) Zieh raus!
12:45:05 Jaziuk: Zieh raus!
12:45:07 Tretjakow: Zieh raus! Mehr Schub geben!
12:45:10 Jaziuk: Volle Kraft!
12:45:10 Erneut warnt das automatische System der Maschine die Piloten vor einem kritischen Anstellwinkel (Angel of Attack)
12:45:11 Yegorov: Gib mehr Schub!
12:45:18 Geräusch des Aufpralls, Ende der Aufzeichnung.
* Der Vollständigkeit halber eine Information für unsere geschätzten Leser: Es war, vor allem vor dem Hintergrund des Krieges, nicht möglich eine Bestätigung über diese Abschrift aus dem Jahr 2002 durch die ukrainischen Behörden zu erhalten.
Gedenken
Ein Jahr nach der Tragödie wurde zum Gedenken an die Opfer eine aus Spendengeldern finanzierte Kapelle nahe dem Flugplatz errichtet.
Bei der Gedenkstätte befinden sich 77 Steine, von denen jeder eines der namentlich bekannten Opfer der Tragödie symbolisiert. Zu jedem Jahrestag der Tragödie finden hier Gottesdienste statt. Im Juli 2007 wurde in der Kapelle zu dem eine Ikone des heiligen Nikolaus installiert.
Text: P. Huber
Foto- und Videomaterial (sofern nicht anders angegeben): Archiv Austrian Wings