Reportagen

Vor 110 Jahren erwarb Lilly Steinschneider ihren Pilotenschein

Lily Steinschneider im Cockpit der Etrich Taube - Fotos: Archiv Austrian Wings

Sie war Flugpionierin und erwarb als zweite Frau Österreich-Ungarns den Pilotenschein. Austrian Wings beleuchtet die Geschichte dieser bemerkenswerten jüdischen Alt-Österreicherin aus der ungarischen Reichshälfte der Monarchie.

Der Name der Stadt Wiener Neustadt ist eng und untrennbar mit der Geschichte der österreichischen Luftfahrtgeschichte verbunden. Doch nur wenige wissen, dass in der "Allzeit Getreuen" auch eine bemerkenswerte junge Frau als zweite Frau der österreichisch-ungarischen Monarchie überhaupt, ihre Pilotenlizenz erlangte: Lilly Steinschneider.

Lilly Steinschneider wurde am 13. Jänner 1891 in der Hauptstadt der ungarischen Reichshälfte, in Budapest, als Lilly Helene Steinschneider-Wenckheim geboren. Ihre Eltern, Irma Wohr und Bernát Steinschneider, waren angesehene Textil- und Möbelfabrikanten, die sogar das Hause Habsburg belieferten.

Im Alter von 19 Jahren wurde Steinschneiders Leidenschaft für die Fliegerei geweckt, als sie 1910 einen Flugwettbewerb in Budapest besuchte. Fortan war sie mit dem "Virus Aviaticus" infiziert und begab sich als logische Konsequenz nach Wiener Neustadt, das damals DAS Zentrum der österreichischen Luftfahrt war. Zuvor hatte Lilly Steinschneider - ebenfalls ein Novum in der damaligen Zeit - noch ihren Autoführerschein erworben.

Der wagemutigen Himmelsstürmerin gelang es 1911 - gerade einmal 20-jährig - als Passagier an der "Ersten Österreichischen Flugwoche" teilzunehmen. Am Steuer saß Oberleutnant Heinrich Bier.

Steinschneider als Passagier von Oberleutnant Bier.

Aber auch bei anderen Flugpionieren nahm Steinschneider im Cockpit Platz und war beispielsweise mit dabei als Josef Sablatnig mit 168 Kilometer Distanz einen "Langstreckenflug" absolvierte.

Bei Karl Illner, einem sudetendeutschen Alt-Österreicher aus dem nordböhmischen Schatzlar (Tschechisch: Žacléř), absolvierte Steinschneider im Jahr 1912 eine Flugausbildung und legte schließlich am 15. August ihre finale Prüfung ab. Sie erhielt den Pilotenschein Nummer 4 und war damit die erste ungarische Pilotin und nach der Tschechin Božena Laglerová die zweite Pilotin der Monarchie.

Die Pionierin inmitten männlicher Pilotenkollegen auf dem Flugfeld Wiener Neustadt

Mit einer vom  Konstrukteur Igo Etrich (auch er ein sudetendeutscher Alt-Österreicher aus Böhmen) entworfenen "Etrich Taube" nahm die junge Frau fortan an internationalen Flugbewerben teil. Einer ihrer ersten öffentlichen Auftritte als tollkühne Fliegerin erfolgte im Oktober 1912 im ungarischen Nagyvarad (heute in Rumänien gelegen), wo sie nach ihrer Landung von 2.000 begeisterten Besuchern mit frenetischem Jubel empfangen und auf den Schulter des Publikums fortgetragen wurde.

1913 nahm Steinschneider bei einem Flugbewerb am Flugfeld Wien-Aspern teil. Dabei kam es zu einem Motorausfall und die 24-Jährige musste außerhalb des Flugplatzes notlanden. Dabei wurde ihre "Taube" schwer beschädigt, die Flugpionierin kam jedoch mit dem Schrecken davon. Wie die wenigen anderen weiblichen Luftfahrtpioniere ihrer Zeit hatte auch Lilly Steinschneider mit Vorurteilen und nicht selten dem Hohn ihrer männlichen Pilotenkollegen zu kämpfen.

Mit Ausbruch des ersten Weltkrieges im Jahr 1914 beendet die Himmelsstürmerin ihre Pilotenlaufbahn und heiratete Graf Johannes Evangelist Virgilio Coudenhove-Kalergi. Das Paar bekam 1927 eine Tochter (Marie-Electa Thekla Coudenhove-Kalergi von Ronspergheim) und lebte gemeinsam auf Schloss Ronsperg in Westböhmen, einer Region, die seit Jahrhunderten von sudetendeutschen Alt-Österreichern besiedelt war und gegen den Willen ihrer Bewohner nach dem Ende der Monarchie 1918 der neu gegründeten Ersten Tschechwolowakischen Republik zugesprochen wurde. 1945 wurden die alt-österreichischen Bewohner brutal enteignet und auf Basis der völkerrechtswidrigen bis heute gültigen Benes-Dekrete vertrieben. Von den rund 3 Millionen vertriebenen sudetendeutschen Alt-Österreichern starben zwischen 241.000 und rund 300.000 an Hunger, Krankheiten oder den Misshandlungen tschechoslowakischer "Revolutionsgardisten".

Als Jüdin musste sie vor den Nazis fliehen
Nach dem Einmarsch der Nazis in die Tschechoslowakei 1938 flüchtete Lilly Steinschneider gemeinsam mit ihrer Tochter zunächst nach Südfrankreich oder Italien (hier widersprechen sich die verfügbaren Quellen), wo sie ein einsames Leben in schwierigen Verhältnissen lebte und schwer erkrankte. Ihr Ehemann unterzeichnete 1943 eine Trennungserklärung, wobei unklar ist, ob dies unter dem Druck der Nazi-Barbaren geschah. 1960, lange nach Kriegsende, erfolgte offiziell die Scheidung. Er starb 1965 im bayrischen Regensburg. Lilly Steinschneider überlebte ihren Ex-Mann um zehn Jahre und schloss am 28. März 1975 in Genf (Schweiz) für immer die Augen.

Ehrung in der "Allzeit Getreuen"
Diese große alt-österreichische Flugpionierin, zu deren Geburt noch der Kaiser regierte, wurde 84 Jahre alt. In Wiener Neustadt, der Geburtsstadt ihrer Fliegerkarriere, erinnert heute die "Lilly-Steinschneider-Gasse" an diese außergewöhnliche Persönlichkeit, die den 1918 untergegangenen Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn wie kaum jemand anders repräsentierte.

Text: HP